Das Gasthaus in Dalaran war gut gefüllt. Ebenso die Orcs, Trolle und Tauren, die sich mit Geschichten ihrer Heldentaten übertrumpften und ihre Krüge aneinander oder anderen auf den Kopf schlugen. „Schade um die Krüge“, dachte ich mir nur. Ich mochte sie nicht und sie mochten mich nicht und so setzte ich mich auf das Bärenfell vor den Kamin und ließ mir von einer tänzelnden Trollfrau etwas zu trinken bringen. Ich wollte mich noch etwas ausruhen und Kraft sammeln bevor ich mich nach Eiskrone aufmachte. Doch dazu sollte es nicht kommen …
„Alunja … Aaaalunjaaa?“, hörte ich plötzlich eine schrille Stimme hinter mir rufen. Ich drehte mich um. Mitten im Raum stand ein junger Orc, dessen Augen suchend durch das Gasthaus wanderten. Da seine Worte meinem Namen sehr ähnelten und ich mir nicht vorstellen konnte, dass einer der betrunkenen Krieger nur entfernt so hieß, nickte ich ihm zu. Er grinste breit und tapste in meine Richtung. „Ich Mok, habe Nachricht.“, stammelte er und seiner fröhlichen Unbekümmertheit konnte ich mich nur schwer entziehen. Die Nachricht stammte von Itarildë und Grímur, die mich baten, bei einigen Aufgaben zu helfen. Ich merkte, wie es mir im ersten Moment schwer fiel, auf die Kämpfe in Eiskrone zu verzichten, auf die Energie, die ich dort freisetzen würde und dem Blut, das sich in immer neuen Mustern über die weiße Schneelandschaft verteilte. Doch all diese Verlockungen nahmen meine Gedanken nur kurz in Beschlag, denn es zog mich noch mehr zu den neuesten Mitgliedern unserer Gemeinschaft. Ich kannte die Stärken und Schwächen der alten Streiter. Ich wusste, dass selbst bei aussichtslosen Kämpfen niemand das Weite suchen würde, dass jeder an der Seite des anderen bliebe. Gemeinsam siegen, gemeinsam sterben. Aber wie sah es bei Itarildë und Grímur aus? Trugen sie den Wappenrock zu Recht? Ich warf dem Boten eine Goldmünze zu und machte mich auf den Weg in die Scherbenwelt.
Wo Grímur genau herkam, war mir nicht bekannt. Doch mein eng verbundener Freund Taugror bat mich, ihn in die Gemeinschaft aufzunehmen und auf seinem Weg so gut es geht zu unterstützen. Da ich eine Bitte Taugrors nie in Frage stellte, rief ich die Streiter zusammen und stellte ihnen den unerfahrenen Druiden vor. Fortan nannte auch er sich Streiter. Ich rätselte, ob er vielleicht ein Schüler meines alten Tauren-Freundes war, doch fand ich keine Verbindung, die diese Vermutung gestützt hätte. Noch rätselhafter war für mich jedoch das Erscheinen der Jägerin Itarildë, die eines Tages an Grímurs Seite stand. Nicht nur, weil sie mich innerlich aufwühlte, sondern weil sie in ihrer ganzen Persönlichkeit für mich wie ein Buch in zwergisch war – unverständlich. Wie konnte sie sich der Magie entziehen und sich vollständig der Natur hingeben? Wie konnte sie unser Volk, unsere Geschichte, unsere Ahnen so verleugnen? Sie war gleichfalls abstoßend wie betörend für mich.
Meine Reise in die Scherbenwelt endete in den Zangarmarschen, ein Stück unberührter Natur in den ansonsten stark verwüsteten Überresten von Draenor. Auf der kolossalen Pumpanlage im Zwillingsspitzsee traf ich Itarildë und sie erklärte mir, dass wir den Druiden der Cenarius helfen sollen, das Gleichgewicht in den Marschen wieder herzustellen. Ich kam ins Grübeln, denn ich erinnerte mich daran, in früherer Zeit schon mal selbst für das Druidenbündnis die unter Wasser liegenden Höhlen der Naga gesäubert zu haben. War die Mühe damals etwa umsonst gewesen? Warum wurde die Pumpanlage nicht gesichert, so dass die Naga nicht wieder einfallen konnten? Ignorante Druiden.
Grímur ließ an diesem Abend auf sich warten. Er suchte noch einen Lehrer auf, um mehr über die Künste des Heilens zu erfahren. Anscheinend musste der Lehrer mit den Grundlagen beginnen, denn die Zeit verstrich ohne ein Anzeichen des Tauren. Itarildë und ich schwiegen uns die meiste Zeit an, während wir auf den Rohren mitten im Zwillingsspitzsee auf Grímur warteten. Sollte ich das Eis brechen, den ersten Schritt wagen? Sollte ich der Jägerin vielleicht von dem erzählen, was in mir vorging? Von den Worten Alammas? Nein, so viel Macht über mich wollte ich ihr nicht in die Hände geben. Und so kümmerte sich jeder um seinen kleinen Kämpfer an der Seite und ich war froh, als der Druide endlich erschien und wir in die Tiefen des Echsenkessels eintauchen konnten.
Einige der Sklaven dort verstanden zwar nicht, dass wir es nicht auf sie, sondern auf ihre Peiniger abgesehen hatten, aber wenn sie lieber tot statt frei sein wollten. Bitte. Mit dem niederen Volk der Zerschlagenen hatte ich nun wahrlich kein Mitleid. Meine Augen und Sinne waren auch viel mehr auf meine zwei Begleiter gerichtet und ich merkte, dass ihnen der koordinierte Kampf in der Gruppe noch nicht so leicht fiel wie den alten Streitern. Es ist noch kein Meister von den Titanen erschaffen worden, soll eine alte Zwergenweisheit lauten. Und so konnte ich im fortschreitenden Kampf mit Genugtuung beobachten, wie Itarildë und Grímur immer sicherer im Umgang mit ihren Kräften wurden. Sie machten ihre Sache gut und wichen nicht von meiner Seite. Nun war ich sicher, dass sie es verdienten, den Wappenrock der Streiter zu tragen. Ich war elektrisiert, ich brannte, ich wollte mehr. Mehr Kämpfe, mehr Gegner. Ich spürte in mir die Sucht nach Macht und saugte zu meiner Befriedigung dem umher laufenden Ungeziefer das Leben aus. Ich erquickte mich an ihrem Leid und freute mich über ihren Tod. Ich drehte mich um zu Itarildë und Grímur und wollte gerade zu einem Jubelschrei ansetzen als ich die ängstlichen Augen der Jägerin erblickte. Mein Körper erstarrte. Was tat ich? Was war passiert? Ich schaute zu meinem Dämonen und mir war plötzlich klar, dass ich irgendwann zu dem werden könnte, was ich jetzt noch bekämpfe. Meine neuen Freunde gingen mit gesenkten Köpfen an mir vorbei. Ich wollte ihnen irgendetwas sagen, die Sache erklären, sie mit Worten beruhigen, aber meine Stimme versagte. Und so schlich ich in einiger Entfernung einfach hinter ihnen her.
Ich wollte mich verkriechen, eine dunkle Ecke aufsuchen, in der ich weder mir noch anderen Schaden zufügen konnte. Doch Itarildë und Grímur waren von den Geschehnissen anscheinend weniger geschockt als ich und fragten, ob wir nicht noch die Höllenfeuerzitadelle aufsuchen wollen. Mit einem kurzen „Gewiss.“ versuchte ich meine Unsicherheit zu überdecken und so machten wir uns auf in die ehemalige Festung der Horde.
Mir war klar, dass ich meine Kräfte diesmal in Grenzen halten musste. Mein Wille war angeschlagen und ich spürte die Mächte des Nethers, die nur darauf warteten, mich gefügig zu machen. Meine Mitkämpfer interessierten mich nicht mehr, ich war nur noch auf mich fokussiert und darauf, mich nicht zu übernehmen. Wie in Trance arbeitete ich Gegner für Gegner ab und hoffte, doch endlich das Ziel in der Zitadelle zu erreichen. Ich schickte meinen Leerwandler in die Gruppen von Gegnern und wollte so von mir und meinen Begleitern ablenken. Doch plötzlich schoss ein Pfeil an meinem Kopf vorbei. Ich war irritiert. Hatten wir einen feindlichen Jäger hinter uns übersehen? Ich schaute hektisch über meine Schulter und sah, wie Itarildë auf die Orcs schoss bevor mein Leerwandler überhaupt nur einen in seinen Bann ziehen konnte. „Neeeein!“, rief ich, doch das Getrampel der Orcs, die schon Richtung Itarildë rannten, übertönte meinen Aufschrei. Ich schaute zu Grímur, der nun anfing, die Jägerin am Leben zu halten und damit auch gleich die Hälfte der Orc-Massen zu sich hinzog. Mein Puls raste. Ich erinnerte mich an das eiserne Gesetz des Kampfes: schützt den Heiler! Doch meine Augen sprangen ständig zwischen Grímur und Itarildë hin und her. Ich konnte die Jägerin nicht fallen lassen. Nein, ich wollte sie nicht fallen lassen. Mein Herzschlag war so schnell, dass ich ihn schon nicht mehr spürte. Ich kniff die Augen zusammen, um mich zu konzentrieren. „Tu was, Ael, tu was, TU WAS!“, schrie ich mich innerlich an. Meine Atmung wurde schwer und ich tat das, was ich nicht tun wollte … was ich nicht tun durfte. Ich murmelte ein paar Worte, öffnete meine Augen und kanalisierte so viel Energie des Nethers wie es mir nur irgendwie möglich war. Es regnete Feuer und Blitze. Aus allen Richtungen waren quälende Orcschreie zu hören. Dann war Ruhe.
Stille.
Ich spürte, wie der Zorn in mir aufstieg und als ich Itarildë gerade anbrüllen wollte, dass ich sie schon ins Grab bringen werde, falls sie es alleine nicht schafft, sah ich sie regungslos zwischen all den Orcs liegen. Ich hatte das Gefühl, ein Schattenblitz würde meinen Körper durchschlagen und sank zu Boden. Mein Kopf fiel nach vorne und ich sah, wie vor mir ein winziger Tropfen auf dem Steinboden aufschlug. Ich zog meine Handschuhe aus und fuhr mir langsam über mein Gesicht. Meine Augen waren feucht. Eine Träne nach der anderen tropfte auf den Boden. Ich hörte Grímur von hinten fragen, ob alles in Ordnung sei. „Kümmert Euch um die Jägerin!“, schrie ich ihn mit gesenktem Kopf an – in der Hoffnung, er würde nicht bemerken, was ich selbst nicht verstand.
Itarildë war zwar verletzt, aber den Kampf in der Zitadelle konnten wir mit Hilfe der Druidenkünste trotzdem noch zu Ende bringen. Ich verabschiedete mich mit einer kleinen Verbeugung und rief meinen Netherdrachen zu mir. Ich wollte weg, nur noch weg.
Ich flog nach Shattrath zu meinem liebsten Aussichtspunkt, von dem ich immer das Treiben unter mir beobachtet hatte. Aber es war niemand mehr da. Shattrath war leer. Shattrath war tot. Ich legte mich auf den kalten Boden und zog meine Beine fest an mich heran. Mein ganzer Körper zittere. Ich spürte die Sucht, die Gier, die Angst. Überschätzung hatte mich noch nie befallen. Niemals hätte ich die Mächte des Nethers herausgefordert – bis zu diesem Abend. Ich wusste nicht mehr, wer ich war. Ich wusste nicht mehr, was ich war …
Eine Antwort auf „Überschätzung“
((Wenn Ita wüsste, was Ihr getan habt, um sie zu retten, sie würde vor Gram vergehen… *schluckt*))