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Itarildë

Das Vergessen

Aeluinya ließ sich nicht blicken. Nie wieder war ich ihr hier begegnet, und doch hoffte ich jedes Mal aufs Neue, wir würden uns noch einmal hier treffen. Vielleicht hatte sie jenen Abend längst vergessen. Und selbst wenn nicht, wäre er doch nur ein Bild in einer langen Reihe bedeutungsloser Ereignisse zwischen wichtigen Schlachten und großen Festen. Ob sie ahnte, wie sehr mein Herz an dieser Erinnerung hing? Bedauernd steckte ich meine Angel ein und kehrte in die Scherbenwelt zurück, um den Sporeggar noch einen Gefallen zu erweisen, um den sie mich gebeten hatten.

Ich hatte den Auftrag gerade ausgeführt, aber noch nicht Bericht erstattet, als Graodan den Grimmling und mich fragte, ob wir Gefallen daran fänden, ihn bei der Suche nach einigen Allianzlerseelen zu begleiten. Noch nie hatte ich an seiner Seite gekämpft. Seine Einladung war mir eine Ehre, und ich stimmte im Gegensatz zu Grímur sofort zu – ahnungslos, wie ich war. Ich hoffte, in Orgrimmar auf ihn zu treffen, doch er war bereits weitergezogen. Während ich noch auf ein Schiff wartete, das mich zu ihm in die Östlichen Königreichebrächte, bot er an mich zu beschwören. Spätestens jetzt hätte ich begreifen müssen – hatte Ael mir nicht erklärt, daß es eines Hexenmeisters und zweier Gehilfen bedurfte, um jemanden durch den Nether reisen zu lassen?Doch meine Gedanken waren vollauf mit der Tatsache beschäftigt, daß Graodan sich offensichtlich kein geringeres Ziel als Sturmwind auserkoren hatte.

Plötzlich fand ich mich mitten in einem Schlachtzug wieder. Entsetzen packte mich. Ich war ein Einzelkämpfer, schon in einer kleinen Gruppe taugte ich nicht viel. Meine Ehre ließ es nicht zu, meine Entscheidung zu widerrufen. Ich saß in der Falle. Hilflos blickte ich mich in dem Gewimmel unzähliger Kämpfer nach dem Hexenmeister um und zog ihn auf ein Wort zur Seite. „Verdammt, Grao, ein Schlachtzug? Ihr habt wohl vergessen, das zu erwähnen!“ – „Ihr müsst Euch nicht anschließen.“ Dämlicher, dummer Orc! Als ob er in meiner Situation auf den Gedanken gekommen wäre einfach feige zu verschwinden. Ich hatte nicht wenig Lust, ihm in seinen großen grünen Hintern zu treten, doch ich riss mich zusammen und fragte grimmig: „Was muss ich tun?“ – „Genießt den Anblick der Städte und sammelt ein paar Ohren ein. Wir werden bis zur Burg durchreiten. Ihr tätet besser daran, unterwegs nicht abzusitzen.“

Ich hätte ihn umbringen können, wäre mir nicht so flau gewesen. Ohne etwas davon mitbekommen zu haben, fühlte ich  mich plötzlich durch etliche Zauber gestärkt und beschützt, doch auch das vermochte mein Selbstvertrauen nicht zu stärken. Das Ganze war der blanke Irrsinn, mit meiner Unerfahrenheit konnte ich Verbündete stark gefährden. Wieso hatte ich einem Orc vertraut? Und wo, verdammt, war Aeluinya?

Der Drang zu fliehen und alle Ehre für immer in den Wind zu schreiben wollte mich gerade übermannen, als sich der Zug in Bewegung setzte. Den Blick fest auf Graodan gerichtet, ließ ich meinen Falkenschreiter mit der Herde traben und bemühte mich verzweifelt, den Hexenmeister nicht zu verlieren. Wie durch ein Wunder kam ich unbeschadet durch das große Tor. Im Handelsdistrikt jedoch schlug mich eine Wache vom Schreiter. Ich rannte zu Fuß weiter, bis vor die Burgtore, wo mich ein Allianzler so übel am Rücken traf, daß ich zu Boden ging und vor Schmerz kaum atmen konnte.

Wie tot blieb ich liegen. Verbündete und Feinde liefen an mir vorbei oder einfach über mich hinweg. Jeden Augenblick rechnete ich damit, daß der nächste Allianzler meinen krampfenden Körper unter seinen Tritten spüren und meinem Leben endgültig ein Ende bereiten würde. Feuergold schien mich im Gewimmel genauso aus den Augen verloren zu haben wie ich ihn, und natürlich sorgte ich mich um ihn, doch für den Moment war ein anderes Gefühl vorherrschend, eines, das ich noch nie erfahren hatte und das mich in seiner Gewalt genauso niederstreckte wie der fast tödliche Schlag. Ich hatte Todesangst.

Vieles hatte ich in meinem Leben gefürchtet. Die Einsamkeit, das Verlassenwerden, Schmach und Schande, Abhängigkeit, Verrat und Schuld und tausend andere Dinge, doch noch nie hatte ich den eigenen Tod gefürchtet. Nie hatte ich ein Begehren gehabt, das durch den Tod nicht hätte zur Ruhe kommen mögen. Ich suchte ihn nicht und wich ihm nicht aus. Er würde mich ereilen, wenn die rechte Zeit gekommen war.

Doch jetzt war alles anders. Entsetzen und Verzweiflung erschütterten mich, ich spürte ein Aufbegehren, das keinen Namen hatte, und vor meinen Augen zogen Bilder dahin, die mich zerrissen. Aeluinya auf ihrem Netherdrachen hoch in den Lüften. Aeluinya im Kampf gegen Araj, strahlend schön, von gewaltiger Macht. Die kühle, unnahbare Ael, die deutlich Distanz zu mir hielt. Die verspielte Ael, die mich mit einem halbversteckten Grinsen zu jungem Gemüse schrumpfte. Die verlorene Aeluinya, die auf das verlassene Shattrath blickte. Die konzentrierte Ael, die einen Höllenorc nach dem anderen ausschaltete. Die Ael mit dem hitzigen Blick, die vom Kampf berauscht nach dem nächsten Gegner suchte. Die überhebliche Aeluinya, die  mir mit ihren Worten Stiche versetzte. Die große Lunya, die meine Nase küsste und mich ein wenig zu fest hielt, wenn mich ihr jemand abnehmen wollte. Aeluinya am Verdantis, so nah wie ewig nicht.

Ich wollte nicht sterben. Nicht fern von ihr, und noch nicht jetzt. Etwas wartete auf uns, etwas Wichtiges, etwas Unverzichtbares, etwas, das ich nicht versäumen durfte. Zu viele Worte waren nicht gesagt, zu viele Stunden nicht gemeinsam genutzt, zu viele Dinge noch nicht getan. Und selbst wenn es inder Zukunft nichts gegeben hätte, was ich ersehnte, so wäre mir noch immer der Gedanke unerträglich gewesen ihr nicht Lebewohl zu sagen, einen letzten Blick zu erhaschen auf ihre Augen, die jetzt so erwachsen, aber immer noch traurig waren.

Mühsam konzentrierte ich meine Sinne auf das Heute und Hier. Ganz Sturmwind schien den letzten noch kampfbereiten Mitgliedern der Horde in die Burg gefolgt zu sein. „Rückzug“, erklang es innerhalb der Burgmauern. Ich zwang mich zu einigen schmwerzhaften Atemzügen und schlug die Augen auf. Sofort wurde mir übel, alles schwankte, aber kein Feind war in Sicht. Aus der Burg drangen die Geräusche aufeinanderprallender Schwerter, der Geruch des Nethers hing in der Luft, und die Präsenz des Todes war körperlich fühlbar. „Rückzug“, befahl ich mir selbst und stemmte mich auf alle Viere. Mit letzter Kraft stieg ich auf meinen Falkenschreiter, hielt mich an seinem Hals fest und gab ihm die Sporen. Wohin, war mir gleich, nur heraus aus der Stadt.

Am Waldrand glitt ich erschöpft von seinem Rücken. Ich pfiff nach Feuergold, und er kam. Mein treuer Begleiter… Auch er hatte hinausgefunden. Ich dankte dem Glück. Schon zupfte er mit dem Schnabel in meinen Taschen herum und brachte mir Verbandszeug und Heiltränke, die bald ihre Wirkung zeigten. Zerschlagen, aber lebendig flüchteten wir uns nach Shattrath, wo schon eine NachrichtGraos auf uns wartete: „Verzeiht, daß ich Euch fast in den Tod führte. Wenn Ihr mögt, werden wir bei Gelegenheit unter günstigeren Bedingungen trainieren.“ Er war also auch entkommen. Ich trug ihm nichts nach. Mir war klar, daß der Kampf um einiges schlechter verlaufen war als er vorher gedacht hätte. Gerne wollte ich von ihm in der Kriegskunst unterwiesen werden, doch für heute wollte ich vom Kampf nichts mehr wissen. Da ich ohnehin auf üble Schmerzen am kommenden Tag gefasst war, spielte es keine Rolle, ob noch mehr Kopfschmerz hinzukam. Ich sprach dem Wein zu und suchte mir ein ruhiges Plätzchen, um meine Gedanken schweifen zu lassen.

Dieses eine Bild ging mir nicht aus dem Sinn… Je mehr die Gegenwart verschwamm, desto klarer wurde die Erinnerung. Wie hatte ich nur vergessen können? Wieso hatte ich sie nicht gleich erkannt? Und sie? Hatte sie nur geschwiegen, oder war es auch ihr aus dem Bewusstsein entglitten, als hätte ein düsterer Zauber alles im Nebel versenkt? Wenn sie sich erinnerte, wie konnte sie dann manchmal so garstig und kühl sein?

„Lunya…“, flüsterte ich in die Stille der Nacht. Ein Stern fiel vom Himmel. Ob er eines Tages dort wiedergeboren würde? Ob seine unsterblichen Gefährten sich seiner erinnern würden, fände er den Weg zurück?

Ich war wieder klein und daheim in unserer Hütte. Mutters und Vaters Stimmen klangen zu uns herauf, doch sie klangen anders als sonst, nicht so warm und leise und freundlich. Ich wusste nicht, was los war, also drückte ich den Arm, der mich umfasst hielt, und setzte zu einer Frage an: „Lunya?“ – „Shhh…“, machte sie und legte mir einen Finger auf die Lippen. „Wir spielen. Wir sind jetzt Späher. Wir dürfen nichts sagen und kein Geräusch machen, damit uns keiner hört. Aber wir können alles hören.“ – „Nits sagen“, flüsterte ich und schlug mir erschrocken die Hand vor den Mund. – „Genau. Sehr gut.“ Sie gab mir einen Kuss, nahm meine Hand und zog mich näher an den dicken Vorhang heran, der unseren Schlafboden vom Rest der Hütte trennte. „Shhhh…“, machte ich, als sie eine Decke um mich wickelte. Sie nickte ernst und legte die Arme um mich, damit ich mich an sie lehnen konnte.

„…beide niemals an die Magie heranführen“, hörte ich meine Mutter sagen. Vaters Stimme klang gedämpft, aber ungewöhnlich heftig: „Sie brauchen niemanden, der sie an die Magie heranführt, solange sie zusammen sind. Sie entdecken schon jetzt ihre Macht. Wir müssen sie wegbringen.“ – „Sie ist schon längst wie mein eigenes Kind. Was verlangt Ihr von mir?“ – „Sie werden sich beide ihr Leben lang quälen, wenn wir sie nicht vor sich selbst beschützen. Wollt Ihr das? Wollt Ihr sie so leiden sehen wie mich, wenn der Nether mich ruft? Wollt Ihr das diesen Kindern antun? Oder wollt Ihr sie laufen lassen, bis sie sich und wer weiß wen noch zerstören?“ – „Es sind doch nur uralte Märchen…“ – „Prophezeiungen, die sich tagtäglich erfüllen, seit sie zusammen sind! Zusammen werden sie eine Macht erlangen, die kein Geist zu ertragen vermag.“

Nun wurde auch Mutters Stimme laut und scharf: „Wie könnt Ihr nur glauben, daß Aeluinya oder Itarildë zu etwas Bösem fähig wären?“ Ich verstand nicht viel, doch genug, um die Hand aus der Decke zu befreien und Lunyas Arm zu streicheln. „Lunya ist nit öse. Lunya ist lieb“, protestierte ich schläfrig.

„Sie sind die reinsten Seelen, doch was nützt es ihnen, wenn sie später Tag für Tag mit dem Wahnsinn ringen? Wollt Ihr das Risiko tragen, daß beide ihr Leben lang leiden?“ – „Sie lieben sich so…“, warf Mutter gequält ein. „Sie werden vergessen. Sie sind beide so jung. Es muss jetzt geschehen. Es muss. Morgen früh bringe ich sie fort. Ich habe geschworen, daß ich für ihr Wohlergehen sorge, und das werde ich. So schnell, wie sie Itarildë lieben lernte, so schnell wird sie auch Juuly und Insanviana ins Herz schließen. Sie wird glücklich sein und vergessen, genau wie unser Kind.“

ich war müde und verstand nicht, wer warum wohin gehen sollte. Ich war nur glücklich in Aeluinyas Arme gekuschelt zu sein. Einmal noch wurde ich wach, weil mein Gesicht nass wurde. „Lunya weint?“ fragte ich schlaftrunken. „Ja.“ Ich ergriff ihre Hand, die Luft erzitterte für einen Moment, und alle Tränen lösten sich ins Nichts auf. „Nit mehr weinen.“ Sie zog mich zurück auf unser Lager, schmiegte sich an mich und flüsterte mir ins Ohr: „Wir wollen uns nie vergessen. Auch wenn es tausend Jahre dauert, wir finden uns wieder. Denk daran, wenn ich fort bin.“ – „Lunya nit fort. Ita liebt Lunya.“

Wortlos hielt sie mich fest, ganz fest, bis Vater uns am Morgen trennte. Als er sie vor sich auf seinen Falkenschreiter setzte, hielt ich es für ein Spiel und wartete darauf, ebenfalls hochgehoben zu werden, doch er ritt mit ihr allein davon.

„Luuunyaaa!“ schrie ich, als ich die Wahrheit langsam begriff. Ich weinte und schrie ihren Namen, immer und immer wieder, tagelang, bis meine Mutter mich schließlich zu einem düsteren Mann brachte und schluchzte: „Ich flehe Euch an, schenkt meinem Kind Vergessen. Noch nie hat eine Seele so sehr gelitten auf der Welt…“ Ein bitteres Gebräu wurde mir gewaltsam eingeflößt. Dann kam der Schlaf, und alles war fort.

2 Antworten auf „Das Vergessen“

Das ist es also, was die beiden verbindet? Aber was steckt dahinter? Nun weiß Ita ja zumindest schon mal mehr als Ael.
Schön geschrieben. 🙂

Ich bin mir sicher, daß Ita eine Antwort auf die Frage sucht, warum ihre Eltern ihr das angetan haben. Ob sie je herausfinden wird, was es mit der Prophezeiung auf sich hat? Und werden Ael und Ita irgendwann ihre Zweifel überwinden und reden statt streiten, damit Ael einen Anhaltspunkt hat, wo sie die Suche nach ihrer eigenen Vergangenheit beginnen kann? Ich bin sehr gespannt.
Und nein, das war jetzt definitiv zu kitschig, um noch schön zu sein, aber Spaß gemacht hat es trotzdem. *grinst*

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