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Itarildë

Zwischen jetzt und einem letzten Blick

Als ich einsah, daß ich allein nicht mehr weiterkam, überwandt ich meinen Stolz oder das, was davon geblieben war, und bat Die Finsteren Streiter um Unterstützung. Tinuzar, der eine gespenstische Verbindung zu Khylon zu haben schien, antwortete prompt, daß der Todesritter bereits auf dem Weg sei. Als hätte er nur darauf gewartet, daß ich mich nach Hilfe umsah, tauchte er aus den Schatten ins Licht, düster und bedrohlich.

Gemeinsam gingen wir auf die Jagd. Wo ich allein gescheitert war, beendete Khylons Schwert das Leben der Bestien in Sekundenschnelle, und eine Trophäe nach der anderen wanderte in mein Bündel, um mir Ruf und Ehre einzubringen. Er trieb meine Ausbildung so weit voran, wie ich es nur in vielen Tagen mühseliger Arbeit vermocht hätte. Dabei lenkte er die Aufmerksamkeit unserer wilden Gegner so geschickt auf sich selbst und seine dienenden Ghule, daß mich kein einziger Schlag traf und nicht eine einzige Kralle über meine Rüstung kratzte. Vollkommen unversehrt, verabschiedete ich mich schließlich dankbar von ihm. Daß ausgerechnet er, der mir den Tod bei jeder Begegnung ans Herz legte, so darauf bedacht gewesen war, mein Leben zu schützen, rührte mich sehr.

Als ich spät am Abend in Shattrath einkehrte, lenkten mich die Gedanken an den untoten Freund ein wenig von meinem eigenen Kummer ab. Ich fragte mich, wie er wohl im Leben gewesen war, als die morbide Faszination alles Sterbenden sich seiner noch nicht bemächtigt hatte. Hatte er Familie gehabt? Frau und Kinder vielleicht? Ganz sicher war er umringt von treuen Freunden gewesen, war er doch selbst im Tode noch ein Fels, auf den man gerne baute. Wen hatte er zurückgelassen? Wer hatte ihn betrauert? Ob er sich an sein Leben und die, die ihn liebten, erinnerte?

Wo das Vergessen dem einen ein Fluch war, mochte es dem nächsten ein Segen sein, ein Schutz vor der quälenden Gewissheit, daß manche Dinge nie wiederkehren, daß manches im Leben unwiderruflich verloren geht und daß auch die größte Liebe, das stärkste Sehnen und eine unendliche Traurigkeit nichts daran zu ändern vermögen.

Der Traum dieser Nacht legte sich schwer auf mein Herz.

Ich stand in den Hallen der Streiter. Mein Begleiter war fort. Nicht einmal Khylons Ratte huschte über den Boden. Nur ein Kind war dort, das Gesicht in den Händen vergraben, von Schluchzern geschüttelt. „Warum weint Ihr, und was macht Ihr in diesen Hallen?“ fragte ich irritiert. „Man hat mich hier eingesperrt“, erklang die zitternde Stimme, und da verlor auch meine ihre Sicherheit. „Lunya?“ Ich schluckte. Das Kind hob den Kopf und sah mich aus traurigen Augen an. Ich eilte zu ihr, wischte ihr die Tränen aus dem Gesicht und nahm ihre zarten, kleinen Hände in die meinen. „Bei den Titanen, wer hat Euch eingesperrt? Nennt mir seinen Namen, und meine Waffe soll ihn das Fürchten lehren!“ Sie entzog sich mir. „Dann müsst Ihr Euer Schwert gegen Euch selbst richten. Ihr habt diesen Ort zu meinem Gefängnis gemacht.“ Die Anschuldigung traf mich mit der Wucht eines Streitkolbens. „Aeluinya, was…“

„Ich bin nicht Aeluinya. Ich bin Lunya. Ich bin das Kind, das Ihr mit aller Macht zurückzwingen wollt. Ich bin die, die Ihr nicht gehen lassen könnt.“ Jetzt war sie es, die meine Hand nahm. „Bitte lasst mich frei“, flüsterte sie, und die traurige Sehnsucht in ihrer Stimme brach mir das Herz. „Sagt mir nur wie…“

„Ihr seid mit Erinnerungen gesegnet. Aeluinya ist das nicht. Lasst sie in Ruhe zu mir finden, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Euer Vater versuchte das Schicksal zu betrügen, doch es bemüht sich um den vorgesehenen Lauf der Dinge. Ihr beide habt Euch gefunden. Nun geht Euren Aufgaben nach. Aeluinya muss ihre Vergangenheit finden. Eure Aufgabe ist es, die Zukunft zu erforschen. Sucht nach der Prophezeiung, Itarildë. Noch scheint es eine lange Weile, bis Eure besondere Kraft gefragt ist, doch die Tage ziehen schnell dahin, und schon bald werdet Ihr für jede Ahnung und jedes Wissen dankbar sein, das Euch beide vor den kommenden Flammen schützt. Folgt Eurem Schicksal, lasst sie ihren Weg gehen und vertraut darauf, daß Eure Bahnen sich kreuzen werden. Es ist Euch vorherbestimmt.“ – „Was wisst Ihr über die Prophezeiung? Wie soll ich suchen?“ fragte ich verzweifelt. „Seht mich an, Itarildë, und seht Euch an. Ihr seid erwachsen, ich bin ein Kind. Denkt daran, wenn Ihr wieder die Klage erhebt und Eure Sorgen von einer Seele gelöst wissen wollt, deren Boden erzittert, weil sie ihre Herkunft nicht kennt. Erfüllt Eure Aufgabe, so wie wir die unsere.“ – „Gewährt mir eine letzte Frage…“

Das Kind schüttelte den Kopf. „Ich weiß, was Ihr fragen wollt, und werde Euch keine Antwort geben, denn Ihr kennt sie bereits. Hört auf zu zweifeln. Das ist alles, was ich Euch sagen will.“

Unglücklich über ihre Entschlossenheit ging ich auf die Tore der Hallen zu und öffnete sie weit. Sie ging gemächlichen Schrittes an mir vorbei, ließ die Hallen hinter sich und drehte sich kein einziges Mal nach mir um. Je weiter sie sich von mir entfernte, desto mehr schien sie an Substanz zu verlieren, doch bevor meine Augen ihren Schemen gar nicht mehr fassen konnten, hörte ich ihre Stimme so klar in mein Ohr wispern, als stünde sie immer noch neben mir: „Zwischen jetzt und einem letzten Blick liegt noch ein ganzes Leben. Vertraut der Zukunft, Itarildë. Zweifelt nicht.“

Mit einem Krachen schlossen sich die Türen. Ich schlug die Augen auf. Der Tag war bereits erwacht. Durch die Vorhänge stahlen sich vorwitzige Sonnenstrahlen herein. Vögel sangen. Auf den Straßen eilten die ersten Abenteurer frühen Herausforderungen entgegen. Händler priesen ihre Waren an. Ich fühlte mich alt, als wäre meine Jugend in der letzten Nacht unerwartet geflohen. Ich war nicht glücklich. Aber ich fühlte mich stärker und ruhiger als je zuvor. Das Leben würde sich niemals formen lassen, wie ich es mir wünschte, doch ich war nicht mehr fehl darin. Ich hatte meinen Platz und meine Bestimmung, wenn ich sie auch noch nicht kannte. Ich hatte eine Aufgabe, die es allein zu erfüllen galt. Zwar kannte ich weder Anfang noch Ende meiner Suche, doch ich spürte die Gewissheit, daß sie mich auf Wege schickte, die seit Anbeginn aller Zeiten von den Titanen für mich erdacht waren.

Ohne noch länger zu zögern, schnürte ich mein Bündel und ging meinem Schicksal entgegen.

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