Viele Tage verbrachte ich damit, kleineren Aufgaben nachzugehen. Ich tauschte meine vom Kampf schon arg mitgenommene Kleidung gegen bequeme Roben und genoss es, die eng geschnürten Gewänder mal abzulegen und mich in luftigen Stoffen eingehüllt durch Wälder und über Wiesen zu bewegen. Es erinnerte mich an die Zeit mit Isa und Juuly, an eine Zeit voller neuer Erfahrungen, voller Überraschungen und der kindlichen Vergleiche der aus heutiger Sicht lächerlichen Fähigkeiten der Magie. Es war eine Zeit voller Freude, voller Zuversicht. Doch wo war diese Zeit geblieben? War das der Preis für Ruhm, Stärke und Macht? Musste man sich selbst aufgeben, um höheren Zielen gerecht zu werden?
Ich haderte nicht mit dem Schicksal, nein, bestimmt nicht, denn der Kampf an der Seite der Finsteren Streiter erfüllte mich mit Stolz und Genugtuung. Diese Gemeinschaft ging weit über andere Bündnisse hinaus. So unterschiedlich, teils merkwürdig die Orks, Untoten, Trolle und Tauren in ihrem Wesen und auch in ihrem Geruch waren, die Streiter waren inzwischen mehr als eine Gilde. Sie waren eine Familie – meine Familie. Aber vielleicht wünschte ich mir auch so sehr eine Familie, weil ich nie eine echte hatte oder mich zumindest nicht erinnerte. Vielleicht wäre alles einfacher gewesen, wenn Isa und Juuly noch an meiner Seite gekämpft hätten, aber alles „wenn“ und „wäre“ brachte mich nicht weiter. „Nach vorne oder zurück, wohin willst du?“, fragte ich mich selbst. Vielleicht war es ja gar nicht mein Ziel, die Vergangenheit zu finden, sie zu verstehen – vielleicht musste ich sie einfach nur vergessen.
Shattrath war eine beeindruckende Stadt. Noch beeindruckender, wenn sie völlig leer war. Der Wind huschte durch die zerklüfteten Bauten und hinterließ ein leises, aber aufdringliches Pfeifen, das sich mit den Geräuschen der umherfliegenden Kreaturen und lamentierenden Verkäufern, die hier auf der Suche nach dem großen Geschäft durchzogen, auf wundersame Weise vermischte. Mir war, als ob darin die Stimmen, Schreie und Gelächter tausender Kämpfer zu hören waren, bis eine echte Stimme diesem Klangspektakel ein Ende bereitete: „Was is‘ nu? Ich habe nicht ewig Zeit.“
Der Rokk, für den ich die letzten Tage tätig war, schaute mich genervt an. „Kommen wir ins Geschäft oder meint Ihr etwa, hier findet sich jemand, der Euch besser bezahlt?“, fauchte er in meine Richtung und zwinkerte dabei seinem Oger-Gehilfen zu, der breit grinste, obwohl er offensichtlich nichts verstand. „Ich brauche noch Zutaten und wenn Ihr sie nicht holen wollt – da stehen genug andere bereit, die nur darauf warten, für solch einfache Arbeit so gut bezahlt zu werden.“ Dabei hüpfte er auf seiner Kiste von einem Fuß auf den anderen, wohl um mich davon abzulenken, dass in ganz Shattrath niemand für seine Aufgaben bereit stand. Ich schaute zum Oger, der immer noch fröhlich grinsend ins Nichts starrte und dabei irgendwelche Fässer von links nach rechts stemmte, nur um sie danach wieder umzustellen. „Shattrath ist Vergangenheit. Lebt Ihr in der Vergangenheit, Rokk?“ Der Goblin schaute mich verwirrt an und hörte schlagartig mit seinem Gehüpfe auf. „Es tut mir leid, aber die Vergangenheit ist nicht meine Zukunft.“, fügte ich hinzu und bedankte mich für die Aufgaben und das Gold der letzten Tage. Ich zwinkerte dem Oger zu, der daraufhin ein noch breiteres Lächeln aufsetzte, schaute mich noch einmal um, atmete tief durch und machte mich auf nach Silbermond.
Bei Alamma begann es, bei Alamma sollte es enden. Dieser Hexer hatte mich mit einem Fluch belegt und nun sollte er ihn mir wieder nehmen. Ich brauchte keine Vergangenheit, ich brauchte eine Zukunft. Meine Gedanken sollten sich wieder auf das konzentrieren, was ich am besten kann: töten. Ich war kein Koch, kein Angler und schon gar kein Bote, ich war eine Meisterin der Nethermagie. Nicht so mächtig wie andere, aber stark genug, um Angst, Schrecken und Leid zu verbreiten. Das war meine Bestimmung, das war meine Zukunft.
Immer noch in neutralen Gewändern gekleidet erreichte ich die Mördergasse, die von meinen Zieheltern „dunkle Gasse“ genannt wurde – wahrscheinlich um Isa, Juuly und mich nicht zu verschrecken. In Gedanken versunken schlenderte ich diese entlang als ich vor mir ein lautes Heulen vernahm. Ich griff reflexartig zu meinem Schwert, das sich am Gürtel unter meiner Robe befand und sprang schnell zur Seite hinter einen Mauervorsprung – der fortwährende Kampf hatte seine Spuren hinterlassen. Ich schaute vorsichtig um die Ecke, um die Situation zu erkunden, doch es war zu dunkel, um Genaues zu erkennen. Es waren nur zwei Gestalten zu sehen, die etwas miteinander besprachen und dann in der Akademie von Alamma verschwanden. Es roch verbrannt und eine Kälte war zu spüren, die mir sehr vertraut war. Ich zog meine Kapuze weiter ins Gesicht und schlich Richtung Eingang, den die beiden gerade betreten hatten. Die Räumlichkeiten waren mir noch mehr als präsent und so wusste ich genau, wo ich schauen und lauschen musste, um etwas aus dem Inneren aufzugreifen, doch es war nichts zu sehen und nichts zu hören. Stillezauber wurden nur in wenigen Ausnahmen eingesetzt. Was war hier los?
Leise murmelte ich ein paar Worte, um ein Auge von Kilrogg zu beschwören und es in die Tiefen der Akademie eintauchen zu lassen. „Schade, dass es keine Ohren hat.“, spottete ich noch als ich mich in eine dunkle Ecke stellte und auf das konzentrierte, was das Auge sah. Doch meine Lockerheit währte nicht lange. In den dunklen Räumen sah ich Alamma in seiner ruhigen, besonnenen Art und Itarildë, wie sie scheinbar in Trance hin und her schwankte und immer mal wieder zusammenzuckte. Vor Schreck trat ich einen Schritt zurück und schmiss dabei einen Eimer um, der mit lauten Klappern auf den Weg rollte. Das Auge von Kilrogg hatte ich bei dieser Aktion verloren und mein Herz pochte bei dem Gedanken, dass … ja, was eigentlich? Ich griff zitternd in meinen Beutel und holte den noch immer verschlossenen Brief der Jägerin heraus. „Was für dunkle Machenschaften sind hier am Werk? Was wollt Ihr? Weshalb lasst Ihr mich nicht in Ruhe?“, rief ich mit weinender Stimme in die Dunkelheit, gerade so leise, dass es nicht von Itarildë gehört wurde, die gerade das Haus von Alamma verließ und mit zufriedenem Blick an der Nische vorbei ging, in der ich mich so fest es ging an die Wand drückte.
Ich war es leid, dass meine Gefühle den Weg vorgaben, dass sie mich schwach und verletzlich machten. Meine Gedanken sollten kühl und rational sein. Sie sollten sich nicht beeinflussen lassen, sonst wäre das mein sicherer Weg in den Untergang. Davon war ich zumindest überzeugt. Ich wischte meine Tränen aus dem Gesicht, zog meinen Gürtel straff und ging geradewegs in die Akademie des Hexenmeisters. Alamma lächelte freundlich und wollte mich gerade begrüßen als ich einen Schattenblitz in seine Richtung schoss, der ihn gegen die Wand schleuderte. Seine heran eilenden Lakaien versetzte ich mit einem Schattenfuror in Tiefschlaf und verbannte die in den Ecken stehenden Dämonen in die Ewigkeit des Nethers. Ich griff Alamma am Hals und presste ihn gegen die Wand. Meine glühenden Augen erhellten sein erschrockenes Gesicht und ich flüsterte ihm ins Ohr: „Wollt Ihr leben oder sterben? Mit Euren Antworten werdet Ihr darüber entscheiden … Meister.“
Eine Antwort auf „Der Wendepunkt“
!!!
Gib deinen Job auf und fang an zu schreiben. Bitte. Und das sage ich, die die meisten Leute darum bittet, nie wieder über eine Veröffentlichung nachzudenken. Ich will mehr. (Mal ehrlich, an dieser Stelle aufzuhören – ist das fair???)