Der Landsitz der Schattenklangs lag tief in den Wäldern von Quel’Thalas, im Nimmersangwald. Es war kein großes Haus, kein prunkvolles Anwesen. Es war auch kein Ort voller Magie, wie man es vielleicht vermutet hätte. Nein, es war eine einfache Holzhütte, die von innen aber viel eindrucksvoller wirkte als von außen. Überall waren kleine Schnitzereien blutelfischer Kunst zu erkennen, die Räume wirkten jedoch weder geräumig noch großzügig ausgestattet. Sollte man sie mit einem Wort beschreiben, würde man wohl „gemütlich“ wählen. Das Haus war von dichten Bäumen umgeben und wenn man genau hinhörte, vernahm man das Rauschen des Meeres, das sich unweit des Anwesens befand. Im Keller des Landsitzes befand sich eine beachtliche Bibliothek, im Erdgeschoss ein Wohnbereich mit einem fast zu großen Kamin, die Küche, Vorratskammer und mehrere Zimmer für Bedienstete oder Gäste. Im Obergeschoss befanden sich die privaten Zimmer der Familie Schattenklang: ein Arbeitszimmer und die Schlafräume. In einem der Schlafräume saß ich auf dem Bett und schaute verwundert zu Alamma.
„Nozdormus Prophezeiung?“, fragte ich.
„Ja, Ael, was weißt du über Nozdormus Prophezeiung?“
„Nun, das was alle wissen. Es ist eine Geschichte zweier Schwestern, die …“ Ich stockte. „Alamma, Ihr wollt doch nicht ernsthaft glauben, dass …?“ Ein lautes Lachen brach aus mir heraus. Der inzwischen leere Krug rutschte mir dabei aus den Händen, rollte über das Bett, fiel auf den Boden und wurde dort von Alamma mit Hilfe seines Stabes gestoppt. Mein Gesichtsausdruck wurde ernster. „Alamma, bitte sagt mir, dass Ihr das nicht alles nur aufgrund einer lächerlichen Geschichte gemacht habt. Bitte sagt mir, dass Ihr einen wirklichen Grund für Eure Tat hattet.“
Der Hexenmeister bückte sich langsam und hob den Krug auf. Er begutachtete ihn sorgfältig auf Unversehrtheit und stellte ihn dann auf den kleinen Tisch neben dem Bett.
„Ael, du bist mächtig geworden. Vielleicht mächtiger als ich. Deines Vaters Talent steckt in jedem Teil deines Körpers. Aber … bist du auch mächtiger als deine Schwester?“
Ich musste schmunzeln. „Entschuldigt, aber kennt Ihr Ita? Sie ist … talentiert … und … ja, sie gibt sich Mühe und … sie ist schon mächtig … ach, Alamma, was soll das? Natürlich bin ich mächtiger als sie.“
Mein alter Meister nickte und setzte sich wieder auf den Stuhl, der neben dem Bett stand auf dem ich immer noch im Schneidersitz saß.
„Ael, was bedeutet Macht?“, fragte er fast nebenläufig und strich sich über seinen gold schimmernden Haarzopf.
„Macht?“
Alamma nickte.
„Nun, Macht bedeutet jemanden zu kontrollieren. Macht bedeutet Einfluss, bedeutet die Möglichkeit der Steuerung anderer.“
„Und? Bist du mächtiger als deine Schwester? Denk nach.“
Ein Schauer lief mir über den Rücken. Ich musste an den Verdantis denken, an die Höllenfeuerzitadelle und den Brief, den ich immer noch nicht geöffnet hatte.
„Ich … ich …“, fing ich an zu stottern, nahm mir eines der vielen Kissen, die zu meiner Linken lagen und klammerte mich fest an dieses. Ich antwortete mit gesenktem Kopf gerade so laut, dass man es noch hören konnte: „Nein.“
Alamma nahm das alles emotionslos zur Kenntnis und nickte erneut.
Ich schaute ihn groß an und fragte: „Was soll das alles? Wohin soll das führen?“
„Du kennst die Worte, Ael.“ Leise und ausdrucksvoll begann er, sie vorzutragen:
„Zwei Schwestern zu finden wie Tag und Nacht,
für immer verbunden durch das Band der Macht.
Zwei Schwestern zu finden wie Feuer und Eis,
Hand in Hand kämpfend im magischen Kreis.
Zwei Schwestern zu finden wie Schatten und Licht,
Flammen verschlingend …“
Mit sanfter Stimme fuhr ich fort: „bis die Liebe zerbricht.“
Vorsichtig nahm ich das Kissen, das ich bis dahin noch an mich presste, von meinem Körper, legte es wieder an seinen Platz und strich es glatt. Mit leerem Blick stand ich auf, ging zum Fenster und schob einen der Vorhänge zur Seite. Draußen schien immer noch die Sonne auf das kräftige Grün der Bäume. Es war ein schöner Tag. Weit weg von Eiskrone, der Kälte und dem Klang von Waffen. Ich drehte mich um zu Alamma. Er saß dort immer noch emotionslos auf seinem Stuhl und schien nur darauf zu warten, dass ich mich offenbarte.
Ich schüttelte den Kopf.
„Nein, Alamma, Ihr irrt. Das sind dumme Geschichten für Kinder. Wie kommt Ihr überhaupt darauf?“
„Es gab Anzeichen.“, antwortete er trocken.
Ich runzelte die Stirn. „Erzählt mir mehr über die Prophezeiung.“, sagte ich fordernd und setzte mich wieder auf das Bett.
„Es gab langjährige“, er räusperte sich, „umstrittene Studien zu der Prophezeiung, die herausfinden sollten, was dahinter steckt. Es wurde in Schriften gesucht und in Akademien experimentiert und letztendlich wurde eine magische Verbindung zwischen Blutelfenschwestern entdeckt.“ Er überlegte kurz. „Stell dir eine Verbindung zwischen den Schwestern vor, eine Röhre vielleicht. Durch diese Röhre fließt Energie, Macht, Magie, was auch immer. Bei richtigen Schwestern ist die Verbindung so, nun ja, groß, dass die Energie einfach steht, bei Halbschwestern wird die Röhre jedoch kleiner und die Energie kommt ins Fließen. Wird sie jedoch zu klein, staut sich der Fluss. Es geht also darum, die optimale Verbindung zu finden. Leider ist diese vorgegeben, man kann sie nicht beeinflussen. Ebenso kann man nicht lernen, die Energie zu nutzen.“ Er pausierte kurz. „Man kann nur das richtige Schwesternpaar finden.“
„Gut, auch wenn ich das alles für ziemlichen Blödsinn halte, aber was hat es mit dem ganzen Schatten, Licht und der Liebe auf sich?“
„Die Prophezeiung besagt, dass die Schwestern unterschiedlicher nicht sein könnten und dass ihre Macht nur solange hält wie ihre Liebe zueinander.“
Ich schüttelte nur ungläubig den Kopf. „Aber, ich kenne Ita doch gar nicht. Und wenn ich jemanden liebe, dann doch wohl eher einen männlichen Vertreter unseres Volkes.“
Alamma lächelte. „Ach, Ael, du weißt, dass die Liebe der Geschwister eine andere ist und denk nach, gab es Kämpfe, in denen du irrational gehandelt hast, in denen du das Schlimmste auf dich genommen hättest, um die Jägerin zu retten?“
Mir schossen wieder die Bilder der Höllenfeuerzitadelle in den Kopf und mein alter Lehrmeister antwortete als würde er die Bilder selbst sehen können: „Dann ist das Band noch intakt.“
In diesem Moment wusste ich gar nicht mehr, was ich denken sollte, saß nur ruhig auf dem Bett und starrte auf die Wand.
„Da gibt es aber noch was.“, unterbrach Alamma meine geistige Abwesenheit.
„Noch was? Macht schon. Ist ja noch nicht genug bisher.“
„Du konntest mich in der Akademie nicht töten.“
„Natürlich nicht.“, schrie ich wie selbstverständlich heraus.
„Und Itarildë hat die Macht über deinen Geist.“
Ich verzog leicht schmollend die Lippen.
„Nun, das wäre nicht schlimm, ich bin auch irgendwie dankbar darüber, dass du mich nicht getötet hast, aber …“
Meine Augen wurden größer.
„Die Prophezeiung besagt noch, dass die ältere Schwester der Schatten ist, die Nacht und das Feuer. Dass sie die Macht über die jüngere Schwester hat und nur durch deren Gutmütigkeit ins Gleichgewicht gelangt. Und nur im Gleichgewicht werden die Schwestern bestehen. Naja, Ael, mir scheint … hier stimmt was nicht.“ Er kratzte sich am Kopf.
Ich schaute Alamma fassungslos an, stand auf und ging zur Tür.
„Miro. MIRO!“, schrie ich durchs Haus. „Bringt einen Krug Wein. Nein. Miro, bringt allen Wein und danach … geht mehr Wein kaufen.“
Eine Antwort auf „Rückschlag“
Hört nicht auf den dämlichen Schönling, der sich als Euer Lehrer aufspielt. Hätte ich Macht über Euren Geist, hättet Ihr das alte Ekel ohne Zögern platt gemacht. *grinst*
Es war übrigens sehr schön, die Prophezeiung einmal im Original zu lesen. Ich bin sehr gespannt, was die beiden Hexenmeister noch alles wissen und aushecken.
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