Das Zelt war erfüllt vom tiefen Atmen und gelegentlichem Schnarchen der Kinder, die sich hier nach dem kargen Festmahl in ihre Felle gewickelt hatten, um die beißende Kälte der Frühlingsnacht fernzuhalten. In den Bergen weilte der Winter lange. Die Schneedecke hielt sich hartnäckig, um nur für ein paar kurze Wochen im Sommer dem ein oder anderen winzigen Fleckchen trotzigen Grüns Platz zu machen. Die Kinder in diesem Zelt hatten nie etwas anderes kennengelernt als die beharrliche Kälte. Anders als die Erwachsenen, die draußen um das große Feuer herum saßen und Dinge beredeten, die nicht für die Jungen bestimmt waren – so sagten sie jedenfalls -, hatten sie auch keine Erinnerungen an die Kosh’harg-Feste vergangener Zeiten, als die Trommeln so laut und befreiend geschlagen worden waren, dass die Erde der alten Heimat erbebte und die Kleinen vom rhythmischen Donnern und Dröhnen in die Träume von kommenden Abenteuern begleitet worden waren. Zum großen Kummer ihrer Eltern kannten sie auch nicht das Gefühl, völlig übersättigt auf ihr Lager zu fallen, obwohl die für das Fest zubereiteten Leckereien nicht einmal zur Hälfte vertilgt waren. Immerhin hatten sie genug zum Überleben und hungerten selten lange, was schon mehr war als die Älteren von der letzten Zeit in der Heimat zu berichten wussten. Sie kehrten einst einem toten Land den Rücken, nachdem die Gunst der Ahnen sie verlassen hatte und kein Tropfen Regen mehr auf die staubige, verbrannte Erde gefallen war.
Aanug kannte diese Geschichten gut, und wenn der Gedanke an ein trockenes, heißes Land ihr auch bizarr vorkam, so unglaublicher erschienen ihr doch die Erzählungen aus der Zeit vor der Dürre, als die Heimat noch grün und fruchtbar war und nicht nur genug Talbukherden ernährte, um die Jägertruppen etlicher Clans erfolgreich heimkehren zu lassen, sondern überdies auch noch genug Getreide abwarf, um den Familien abwechslungsreiche, ja, und vor allem reichlich Nahrung zu bescheren. Auch dort war es nicht immer leicht gewesen, das betonte Drek’Thar immer wieder, doch die Wehmut, mit der er von diesen friedlichen Zeiten sprach, überzeugte Aanug davon, dass kein Oger und kein Gronn wirklich in der Lage gewesen war einen Schatten auf diese goldenen Zeiten zu werfen. In ihren Träumen wanderte sie durch das Land, das sie nie betreten hatte, erforschte die Wälder Terokkars und wanderte den weiten, beschwerlichen Weg zu den Höhlen des Oshu’guns, des heiligen Berges, in denen einst die Ahnen zu den Schamanen gesprochen hatten.
Nur in dieser Nacht träumte sie nicht.
In dieser Nacht lag sie wach um zu warten, bis alle um sie herum fest schliefen und die Erwachsenen so sehr ins Gespräch vertieft waren, dass ihre Aufmerksamkeit für alles andere nachließ. So war es zu jedem Kosh’harg-Fest. Nur war es in dieser Nacht nicht das Gefühl des Abenteuers und der Reiz der Gefahr entdeckt zu werden, die sie mühelos wachhielten, sondern der heiße Knoten Wut, der in ihrem Magen wuchs und tobte. Schuld daran war die Anzahl der Lager in diesem Zelt. Hier lagen acht Kinder unter ihren Fellen. Acht! Drei davon waren Jungen. Dabei gab es hier vier Jungen, die das Om’riggor noch nicht hinter sich gebracht hatten. Für den einen aber galten die Regeln nicht, er durfte mit den Erwachsenen am Feuer sitzen, obwohl er kaum älter war als sie. Die Welt war so ungerecht, dass es einem davon schlecht werden konnte!
Statt aufzuspringen und irgend etwas kaputtzuschlagen (wonach ihr durchaus der Sinn gestanden hätte), schlug sie langsam und vorsichtig ihr Fell zurück, um nur ja kein Geräusch zu machen. Dann schlich sie vorbei an den schlafenden Kindern und griff – ins Leere. Wo ihre Stiefel gestanden hatten, glänzte jetzt nur eine kleine Pfütze im hereinfallenden Mondlicht. Sie tastete durch den Vorhang, ob jemand versehentlich ihr Schuhwerk beim Eintreten nach draußen geschubst hatte, als eine Hand sich um ihr Handgelenk schloss und sie am Arm in die eisige Nachtluft zog.
„Junge Dame, suchst du vielleicht das hier?“ Der Schamane, dessen übrige Sinne sein Augenlicht vollständig zu ersetzen schienen, hielt ihre Stiefel in die Luft und wartete ab, ob seine grollende Stimme eine angemessene Reaktion bei Aanug hervorrief, doch das Mädchen zuckte nicht einmal mit der Wimper.
„Drek’Thar, das ist nicht gerecht…“
„Schluss jetzt“, unterbrach er sie harsch. „Jedes Kosh’harg erwische ich dich beim Spionieren. Heute aber habe ich keine Zeit für solche Spielchen. Und überhaupt hätte es in der Heimat noch tüchtig Prügel gegeben für so einen Ungehorsam!“
„In der alten Heimat hättet Ihr mich gar nicht erwischt, weil Ihr schon längst in den Höhlen des Oshu’guns mit den Ahnen geredet hättet! Und Häuptling Durotan und sein Freund Orgrim haben sich auch einst aus dem Zelt geschlichen, und es ist nur Gutes daraus entstanden. Und sie haben keine Prügel dafür bekommen, das habt Ihr selbst gesagt…“
Um Drek’Thars Mundwinkel zuckte es verdächtig, doch er brachte sich schnell wieder unter Kontrolle.
„Ich erzähle diese Geschichten, damit du die Ahnen nicht vergisst, nicht damit du für alles eine Ausrede hast. Und jetzt ins Zelt mit dir, sonst frieren dir die Zehen ab!“
Die Warnung war nicht aus der Luft gegriffen. Nicht viele Orckinder des Frostwolfclans besaßen noch alle Zehen. Die Kälte forderte schnell ihren Tribut.
„Meine Stiefel…“
„Bekommst du morgen früh, wenn du keinen Ärger mehr mach-“
„Drek’Thar, mein Freund, auf ein Wort!“ unterbrach ihn eine energische, einschmeichelnde Stimme. Der Schamane und Aanug wandten sich überrascht um. Aanug verzog säuerlich das Gesicht, als sie den Sprechenden erkannte.
„Oh, entschuldigt, ich störe wohl gerade…“, tat er betreten und wandte sich zum Gehen um.
„Nein, wir sind hier fertig“, erklärte Drek’Thar mit einem letzten strengen Blick in Richtung des Mädchens. „Was wollt Ihr bereden?“
„Lasst mich das tragen“, sagte der Junge und griff nach ihren Stiefeln. Die andere Hand legte er auf Drek’Thars Schulter und schlug vor: „Lasst uns ein Stück gehen, ich möchte Euren Rat in einer Sache, die… nicht für Kinderohren bestimmt ist…“
Sie wandten sich ab, und während Aanug noch glaubte vor Wut über diesen arroganten Jüngling brüllen zu müssen, drehte er ihr für einen kurzen Moment den Kopf zu, schenkte ihr ein Augenzwinkern und ließ unauffällig und lautlos die Stiefel in die nächste Schneewehe fallen. Sprachlos sah sie die beiden verschwinden. Als die Luft rein war, lief sie flink durch den eisigen Schnee und schnappte sich ihre Stiefel. So für eine lange Nacht gewappnet, schlich sie dicht genug ans Feuer um lauschen zu können. Während der langweiligeren Themen glitt ihr Blick häufig zu dem jungen Orc, der neben dem Schamanen Platz genommen hatte, und ein Grinsen stahl sich auf ihr Gesicht. Wieder musste sie an Orgrim und Durotan denken, deren clanübergreifende Freundschaft in einer Kosh’harg-Nacht begonnen hatte.
‚Vielleicht werden wir doch noch Freunde, Go’el, Sohn des Durotan, Häuptling der Frostwölfe‘, dachte sie bei sich, als ihre Blicke sich trafen und er sein amüsiertes Lächeln schnell verbarg, um sie nicht zu verraten.