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Aanug

Der Weg der Geister

Die Orcs des Frostwolfclans bemühten sich, die alten Traditionen trotz aller Widrigkeiten zu pflegen und an ihre Kinder weiterzugeben. Drek’Thar, der sich schon seit der Verbannung wieder der guten, sauberen Macht der Erde verpflichtet und der dämonischen Magie den Rücken gekehrt hatte, begann den jungen Häuptling in den Künsten des Schamanismus  zu unterweisen, und im Lager keimte Hoffnung auf, als dieser sich nicht nur als gelehriger Schüler erwies, sondern von den Ahnen geradezu beseelt schien. Auch er war nicht in der Lage die Geister zu sehen, doch die Kräfte der Natur gaben ihm bereitwillig, worum er sie bat, und eine Selbstsicherheit und Weisheit waren ihm eigen, die ohne das Wohlwollen und die geistige Führung der Ahnen niemals in einem so jungen Orc hätten wohnen können. Die Stimmen derjenigen, denen der ein oder andere Hexenmeister im Lager gefallen hätte, um sich bei einem Angriff gegen die menschlichen Magier zur Wehr setzen zu können, verstummten. Die Ahnen, die ihnen das Unverzeihliche noch nicht verziehen hatten, zeigten ihnen durch die stetig wachsenden Kräfte Drek’Thars und Go’els, daß sie auf dem richtigen Weg waren und die zweite Chance erhielten, die sie eigentlich nicht verdient hatten.

Der junge Häuptling ermutigte den Schamanen, sein Wissen auch an die anderen Kinder im Lager weiterzugeben, und Aanug brannte darauf, diese Chance zu ergreifen.

Lange hatte sie mit ihrer Mutter deshalb gestritten. Sie wollte etwas tun, eine Aufgabe, eine Bestimmung haben. In früheren Jahren hatte sie davon geträumt eine Kriegerin zu werden, doch sie hatte eingesehen, daß ihr Vater dem niemals zustimmen würde. Er selbst war ein Krieger, und als Krieger hatte er in der alten Welt viel Schuld auf sich geladen. Er war bei dem Überfall auf Telmor dabei gewesen, bei der Schändung des Tempels von Karabor, und schließlich auch bei dem Blutbad in Shattrath. An seinem Streitkolben klebte das blaue Blut unschuldiger, wehrloser Draenei.

Auch diese Geschichten erzählte man sich abends am Lagerfeuer. Vielleicht lag es an Drek’Thar, der die Gram über seine Schuld nicht verwinden konnte und auch jetzt noch ein tränennasses Gesicht bekam, wenn er aus der dunklen Zeit ihrer Geschichte berichtete, vielleicht lag es auch an der besonderen Situation des Exils, die sie immer wieder zum Rückblick und zur Reue zwang. Zu viel war geschehen. Zu glücklich waren sie daraus hervorgegangen – hatte doch Durotan verhindert, daß sie wie die meisten anderen Clans vom Blut Mannoroths tranken und dadurch Sklaven ihrer unstillbaren Gier nach Macht und Gewalt wurden. Sie waren dankbar dafür, aber es quälte sie auch, mussten sie sich doch damit auseinandersetzen, daß sie trotz freien Willens genau wie die anderen gemordet, Leichen geschändet, Heiligtümer entehrt und Frauen und Kinder abgeschlachtet hatten.

Aanugs Vater ließ keinen Zweifel daran, daß keines seiner Kinder den Pfad des Kriegers einschlagen würde, die Jungen nicht, und erst recht nicht seine älteste Tochter. Die wiederum ließ keinen Zweifel daran, daß sie den Weg des Schamanen gehen wollte, und begann fast täglich aufreibende Diskussionen mit ihrer Mutter.

„Mutter, ich will eine Aufgabe! Ich will mehr tun als Euch immer nur beim Kochen und Nähen und bei den Kleinen zur Hand zu gehen. Lasst mich lernen, ich bitte Euch!“

„Du wirst deine Aufgaben bekommen, mehr als du denkst, wenn du deine eigene Familie zu versorgen hast“, antwortete sie stets. Aanug, die von dieser ganzen Familiensache nichts wissen wollte, pflegte dann wütend davonzulaufen und arglose Felsbrocken zu quälen, bis der schlimmste Zorn verraucht war.

„Aanug, lass die Berge stehen“, dröhnte eines Tages Go’els Lachen zu ihr heran. Der nächste Stein, den sie trat, traf sein Schienbein mit der Präzision eines Pfeils. Er zuckte zusammen und machte ein mehr überraschtes als verärgertes Gesicht. Dann hob er die Hände in die Luft und machte gute Miene zum bösen Spiel. „Ich ergebe mich. Wie kann ich mir deine Gnade sichern?“

Sie ließ sich in den Schnee fallen und seufzte schwer. „Tut mir leid. Ich sollte meine Wut nicht an dir auslassen.“

Er ließ sich neben ihr nieder und boxte ihr scherzhaft in die Seite. „Richtig. Du sollst deinem Häuptling Respekt entgegenbringen.“

Sie schnaubte. „Wenn er nicht so ein Kindskopf wäre, täte ich das vielleicht.“

„Was willst du damit sagen? Ich? Ein Kindskopf?“ empörte er sich und zog ihr an den Haaren. Sie schlug nach ihm, und beide fingen an zu lachen.“Nein, sei ehrlich. Was ist los?“ fragte er, als sie wieder zu Atem kamen.

„Drek’Thar soll mich auch den Weg der Geister lehren.“

„Ich bin mir sicher, er wäre stolz, dich seine Schülerin nennen zu dürfen. Rede mit ihm.“

„Meine Mutter will nicht, daß ich etwas anderes lerne als eine Familie zu versorgen.“

Er kratzte sich am Ohr. „Das ist natürlich ein gutes Argument. Schließlich bist du die einzige, die in Frage kommt, wenn ich mir in absehbarer Zukunft eine Gefährtin nehmen will.“

Entsetzt blickte sie ihn an, doch sein schallendes Gelächter ließ ihre Panik in Ärger umschlagen.

„Aanug, hätte ich das ernst gemeint, hättest du mir mit diesem Blick das Herz aus der Brust gerissen. Versuch dir beim nächsten Antrag deine Gedanken nicht mitten ins Gesicht zu schreiben, sonst wimmelt es hier bald vor gebrochenen Orcs. Und jetzt hör auf dich zu ärgern. Ich rede mit deinen Eltern.“

Sie knuffte ihn. „Flâgît! Musst du mich so erschrecken?“

„Ich werde deiner Mutter sagen, daß ohnehin kein Mann dieser oder der alten Welt einem Wildfang wie dir gewachsen wäre, wenn du so weitermachst.  Leg es darauf an, und ich wette mit dir, daß du noch nicht zu alt für eine Tracht Prügel bist.“

Sie sprang auf, schlug ihm mit der flachen Hand auf den Hinterkopf und lief voraus Richtung Dorf. Auf halber Strecke drehte sie sich um und rief ihm fröhlich entgegen: „Du bist ein flâgît, aber du bist auch der beste Häuptling, den man sich wünschen kann.“

Ein Schneeball traf sie am Arm. „Und du bist die frechste Göre, die der Frostwolfclan je hervorgebracht hat. Jetzt lauf und mach dich mal nützlich, junge Schamanin!“

Sie grinste, klopfte sich den Schnee von den Kleidern und lief zu ihrer Mutter, um ihr die Kleinen abzunehmen.

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