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Aanug

22 Jahre nach Öffnung des Dunklen Portals

Die junge Schamanin trat hinaus auf das Deck und sog begierig die salzige Seeluft ein. Der Schlaf hatte ihr nur wenig Kraft gegeben. Selbst nachdem der Sturm abgeklungen war, kämpfte sie mit der Übelkeit. Als sie an Bord gegangen waren, hatte Drek’Thar ihr versichert, daß der schlimmste und gefährlichste Teil der Reise überstanden war, doch sie sehnte sich auf den Rücken ihres Wolfs zurück.

„Trinkt das.“

Sie musste sich an der Reling festhalten, um nicht vor Schreck das ohnehin schon gestörte Gleichgewicht zu verlieren, als die riesige, tierische Gestalt plötzlich neben ihr aufragte. Ein Taure. So hatte Drek’Thar dieses sonderbare Volk genannt. Der Taure ließ sich keine Verärgerung über ihre Reaktion anmerken, und in seinem Blick lagen weder Spott, noch Hohn. Dankbar nahm sie die Schale entgegen, die er ihr reichte.

„Was ist das?“

„Kräutersaft. Er wird Euren Magen beruhigen. Die erste Überfahrt macht vielen zu schaffen.“

Sie nickte und trank. Es schmeckte etwas bitter, doch zu ihrem Erstaunen merkte sie, wie es fast augenblicklich die Übelkeit vertrieb.

„Danke. Das ist sehr freundlich von Euch.“

Er nahm ihr die Schale ab und zog die Lefzen hoch. Ein Lächeln?

„Mein Volk wird Euch gern die Kräuter unseres Landes zeigen und Euch erklären, welchen Nutzen sie haben. Besucht die Anhöhe der Geister in unserer schönen Stadt Donnerfels, wenn Eure Zeit es erlaubt. Man wird Euch freundlich empfangen.“

„Das werde ich tun, …?“

„Huno Sturmkalb.“

„Aanug, Tochter Kag’ars vom Clan der Frostwölfe.“

Sie verbeugten sich und verabschiedeten sich mit einem Lächeln.

Der Rest der Überfahrt stand unter einem guten Stern. Sie gerieten in keine weiteren Stürme, die Mannschaft und die Mitreisenden waren wohlauf, und mit jedem Tag wuchs die hoffnungsvolle Unruhe bei dem Gedanken an das Land, das zu betreten sie sich aufgemacht hatten.

Je näher sie ihrem Ziel kamen, umso mehr fragte Aanug den freundlichen Tauren über seine Heimat und Drek’Thar über die Hauptstadt der Orcs aus. Doch auch diese Geschichten vermochten ihr keine gute Vorstellung von dem zu geben, was sie erwartete. Das Neue Land blieb genauso Traumlandschaft wie die Alte Welt. Blühende Bilder in ihrem Kopf, die sie mit Sehnsucht erfüllten und sie doch im Ungewissen darüber ließen, wie die Realität aussah. Zu der Abenteuerlust gesellte sich nun auch ein Funken Angst. Zwanzig Jahre lang hatte die junge Schamanin ihr Lager nicht verlassen. Ihr Leben lang war sie von vertrauten Gesichtern umgeben gewesen. Sie dachte an den Tag zurück, an dem Go’el zu ihnen gestoßen war. Da war er ein Fremder in einer Gruppe Vertrauter gewesen. Schon auf diesem Schiff war die Situation eine völlig andere – die Mannschaft war der Zahl der Passagiere ebenbürtig, und nicht alle Mitreisenden waren Frostwölfe. Aanug machte die Erfahrung, daß sie etwas in ihrem Inneren überwinden musste, wollte sie auf Fremde zugehen. Etwas in ihr wurde unruhig und klein, sobald die Zahl der Vertrauten unterlegen war. Wenn sie jetzt an die Hauptstadt dachte, an einen Ort, der mehr Orcs beherbergte als sie sich vorstellen konnte, und daran, daß all diese Orcs für sie Fremde wären, wurde ihr ganz flau, und sie musste den Gedanken schnell beiseite schieben. Schließlich rückte dieses Empfinden sogar die Abenteuerlust in den Hintergrund. Ihr Appetit ließ nach, und sie verbrachte täglich mehr Stunden damit auf das endlose Wasser zu starren und sich zu fragen, ob sie der Zukunft gewachsen war.

Obwohl Drek’Thar ihr häufiger sorgenvolle Blicke zuwarf, war es schließlich Huno, der sich zu ihr an die Reling gesellte und nach dem Grund für ihre Grübeleien fragte.

„Plagt Euch das Heimweh, Schamanin?“

Überrascht sah sie zu ihm auf.

„Nein… Vielleicht… Ich weiß es nicht. Ich bin zum ersten Mal fort. Ich weiß nicht, was Heimweh ist.“

„Wandern Eure Gedanken zu Eurem Lager zurück, wenn Ihr wie jetzt mit schwerem Blick die Wellen zählt?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Sie eilen uns voraus.“

Er nickte schweigend und zeigte auf den Horizont.

„Dort ist die Küste. Wir werden die Ostküste entlangsegeln und in Ratschet festmachen. Von dort aus ist es nicht mehr weit bis zur Neuen Stadt.“

Sie schluckte.

„Wie viele Tage noch?“

„Bei günstigen Winden werden wir morgen vor der Mittagssonne anlegen können.“

Er musterte sie aufmerksam.

„Ich habe schon viele Eures Volkes auf ihrer ersten Reise in unser Land begleitet. Manche von ihnen traf ich wieder. Vielen macht die Ungewissheit das Herz schwer. Ihr braucht Euch dafür nicht zu schämen, Aanug. Ich sah andere Orcs zurückkehren, weil sie an der Herausforderung ein neues Leben zu beginnen zerbrachen. Ihr aber seid aus anderem Holz geschnitzt. Ihr werdet Euren Weg machen. Euer freundliches Wesen wird Euch viele Türen öffnen. Ihr habt allen Grund, morgen voller Mut und Zuversicht von Bord zu gehen.“

„Mit meinem Mut ist es zur Zeit nicht sonderlich gut bestellt“, gab sie kleinlaut zu.

„Mut heißt nicht keine Angst zu haben, junge Schamanin. Mut ist nur die Fähigkeit seinen Ängsten entgegenzublicken. Was wollt Ihr als erstes tun, wenn Ihr Orgrimmar erreicht?“

Sie lächelte, und für einen Moment fielen alle Sorgen von ihr ab.

„Ich möchte Thrall begrüßen.“

„Den großen Kriegshäuptling?“

„Nein. Den jungen Flegel, der vor fast drei Jahren unsere Heimat verließ und viel zu selten Nachricht schickt. Ich werde ihm für seine Treulosigkeit die Hauer geradebiegen.“

Er lächelte.

„Wenn schon ein Freund auf Euch wartet, dann kann der Anfang doch gar nicht mehr schlecht werden.“

Seine Worte klangen Aanug noch im Ohr, als sie am nächsten Morgen ein wenig schwankend das Schiff verließ. Fast kam es ihr vor, als würde der feste Boden ein wenig schwanken. In einer kleinen Hafenstadt mieteten sie Reittiere für die letzte Etappe ihrer Reise, unvergleichlich viel größere Wesen als die Wölfe zu Hause, bullige Tiere mit dicker, runzeliger Haut, deren buckelige Rücken schon sehr weit vom Boden entfernt waren. Schon bald verschwendete sie keinen Gedanken mehr an die schwindelnde Höhe. Die Sonne brannte heiß auf ihr Haupt, und der brühwarme Wind wehte ihr Staub in das verschwitzte Gesicht. Noch nie hatte Aanug erlebt, daß ihr beim Nichtstun der Schweiß ausbrach.

Auch Drek’Thar sah erschöpft aus.

„In ein paar Tagen hast du dich an die Hitze gewöhnt, Mädchen. Bis dahin rate ich dir viel zu trinken und dich möglichst wenig zu bewegen. Und ein Eis in Orgrimmar zu essen…“

Seine Stimme nahm einen schwärmerischen Ausdruck an.

„Ein was?“ fragte sie irritiert.

„Ein Eis. Eiscreme. Eine Delikatesse.“

Aanug ließ sich mit ihrem Reitkodo zurückfallen, um ihre Sorge mit Khornan zu teilen.

„Ich glaube, wir sollten eine Rast einlegen. Drek’Thar redet wirr. Er phantasiert von Eis, das in dieser Hitze als Nahrung zu finden sein soll.“

Khornan lachte.

„Seid unbesorgt. Der alte Schamane ist noch bei SInnen. In der Stadt gibt es Dinge, die so verrückt sind, daß man sie mit eigenen Augen gesehen haben muss, um sie zu glauben. Oder in diesem Fall selbst geschmeckt. Es lohnt sich. Nichts ist köstlicher bei dieser Hitze.“

Sie starrte ihn düster an.

„Eis.“

„Ja.“

„Hier.“

„Ja.“

„Zum essen.“

„Ja.“

Sie schüttelte den Kopf und tröstete sich damit, daß die Hitze sie bald genauso verrückt machen würde wie ihre Begleiter.

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