Wie alle Städte war auch Orgrimmar ein lebendiges, atmendes Wesen, das mit der Zeit sein Gesicht veränderte und langsam, aber unablässig neue Gestalt annahm. Zeppeline erleichterten die Reisen zwischen den Hordestädten, Schiffe verbanden die unabhängigen Städte miteinander, die Bevölkerung wuchs, und neue, fremd anmutende Gestalten mit langen, spitzen Ohren und kühlem Gemüt ließen sich immer öfter in Aanugs neuer Heimat blicken. Doch was Aanug am meisten bewegte, war die Kunde, daß auch die Allianz der Menschen, ihrer Feinde in dieser Welt, neue Verbündete hatte. Die Draenei hatten sich dem Feind angeschlossen.
Irgendwie hatte das Volk überlebt. Irgendwie waren sie nach Azeroth gekommen. Nein, nicht irgendwie. Durch ein Portal. Der Weg in die alte Heimat, der Weg in ihre Welt, auf der ihr rechtmäßiger Platz war, war frei. Der Weg zum Wohnsitz der Ahnen, zum Heiligen Berg, war geöffnet. Nach so vielen Jahren der Unsicherheit und der Zweifel war es ihr endlich möglich Klarheit zu finden. Nichts würde sie davon abbringen.
„Auf gar keinen Fall.“
Seine versteinerte Miene und sein entschlossener Blick hätten jeden anderen zum Schweigen gebracht. Nicht jedoch Aanug.
„Ich bin hier, um mich zu verabschieden, nicht um deine Erlaubnis einzuholen, Thrall.“
Mit ungewohnter Schärfe sprach sie den Namen aus, den ihm die Menschen gegeben hatten.
„Ich lasse nicht zu, daß du in den sicheren Tod rennst. Ich untersage es dir. Nicht als dein Freund, sondern als dein Kriegsfürst. Lieber lasse ich dich einsperren als Holz für deine Verbrennung zu sammeln. Meine Wachen werden dich abführen, bevor du die Stadttore auch nur berühren kannst, wenn du es versuchst.“
Sie streckte die Hände aus und hielt sie ihm entgegen.
„Nur zu. Lass mich verhaften oder lass mich gehen.“
„Aanug… Bitte zwing mich nicht dazu.“
Er erhob sich aus seinem Thron, fasste sie an den Händen und zog sie hoch aus der knieenden Position des Bittstellers. Die plötzliche Weichheit in seiner Stimme und der flehende Blick brachten ihr Herz zum Zittern, doch sie durfte nicht nachgeben.
„Sei vernünftig, Aanug. Vielleicht wird es irgendwann sicher genug sein. Hab Geduld“, bat er sie eindringlich. Sie schluckte.
„Nein, Go’el, Orgrims Sohn. Es ist mein Schicksal, und ich muss ihm folgen.“
Eine einzelne Träne lief über seine Wange und fiel, von niemandem außer ihr bemerkt, auf den staubigen Boden. Enttäuschung lag in seinen Augen, Enttäuschung, Schmerz und Bedauern. Sie verstand. Sein Wille stand gegen den ihren, und sie beide würden mit aller Entschlossenheit darum kämpfen diese Angelegenheit für sich zu entscheiden. Doch sie waren einander auch zu tief in Freundschaft verbunden, als daß sie dies auseinander bringen könnte. Mit einem kaum merklichen Nicken signalisierte sie ihm, daß sie ihm schon verziehen hatte, was jetzt bevorstand. Mit einem letzten Händedruck ließ er sie los.
„Wachen! Führt sie ab. Die Schamanin Aanug, Tochter Kag’ars vom Clan der Frostwölfe, wird unter Arrest gestellt, bis sie mir ihren Gehorsam schwört.“
Die Stunden in Einsamkeit verloren bald an Bedeutung. In dem kargen Verlies war es leicht die Gedanken auf Wanderschaft zu schicken. Aanug rief sich die Träume ihrer Kindheit in Erinnerung. Vor ihrem geistigen Auge entstand der Oshu’gun, gewann an Details, bis sie sich vorstellen konnte den uralten Pfad zu beschreiten, den die Schamanen der ersten Generation gegangen waren, um zu der Höhle zu gelangen, in der die Ahnen ganz nahe waren. Wie sehr sehnte sie sich nach einem Zeichen von ihnen!
Jeden Abend riss Thrall sie aus ihren Träumen heraus, setzte sich vor ihre Zelle, versuchte es mit Ermahnungen, Erklärungen, Bitten und gutem Zureden, doch sie ließ sich durch nichts erweichen. Auch verweigerte sie jede Nahrung, nahm nur noch Wasser zu sich. Nach einer Woche drohte Thrall ihr in einem Wutausbruch sich diese Quälerei nicht länger anzusehen, und er blieb tatsächlich fort – Aanug war es nur recht, hatte die Verzweiflung in seinem Blick sie doch sehr auf die Probe gestellt.
Nach der dritten Woche in Gewahrsam tauchte der alte Schamane vor ihrer Zellentür auf.
„Welcher Wahnsinn hat dich geritten, Kind?“
Sie sah überrascht auf.
„Drek’Thar! Was macht Ihr hier?“
Er schnaubte.
„Thrall hat mich gerufen, damit ich dich davon abhalte dich zu Tode zu hungern.“
„Ich hungere mich nicht zu Tode. Ich faste, um meinen Geist für die Stimmen der Ahnen zu öffnen. Kräutersaft gibt es hier nämlich nicht.“
Er seufzte schwer.
„Du hast die Geschichten unserer Heimat mehr geliebt als jedes andere Kind, das ich in dieser Welt aufwachsen sah, und ich habe mich so sehr darüber gefreut, daß nicht alle Traditionen und Erzählungen in Vergessenheit geraten werden, solange es Kinder wie dich gibt. Habe ich einen Fehler gemacht, Aanug? Habe ich damit eine fixe Idee in dir gesät, die dich jetzt in den Tod treiben wird?“
Er schien um Jahre gealtert. Die Falten in seinem Gesicht waren tiefer denn je, und die Sorge in seinen blinden Augen schien wie ein Gewicht auf seinen Schultern zu lasten.
„Nein, Drek’Thar. Nein, es war nicht falsch. Versteht mich doch – ich muss meinen Weg finden. Die Ahnen sprechen hier nicht zu uns. Vielleicht tun sie es, wenn wir wieder zu ihnen gehen. Im Oshu’gun haben sie sich den Schamanen gezeigt. Vielleicht werden sie auch mir dort ein Zeichen geben, welcher Weg mein Schicksal ist.“
„Die Ahnen schweigen nicht, weil wir am falschen Ort sind, Aanug. Sie schweigen, weil wir zu große Schuld auf uns geladen haben. Du gehst deinen Weg bereits. Was willst du noch?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Es ist eine ehrenvolle Aufgabe, die Kranken und Verletzten zu heilen, doch ich glaube nicht, daß hier meine Bestimmung liegt. Ich muss in die Heimat. Ich bin mir sicher, daß ich dort die Antworten finden werde, nach denen ich suche.“
„Unsere Heimat ist jetzt hier. Unsere alte Heimat ist eine Welt voller Gefahren, vor denen dich selbst die besten und tapfersten Krieger nicht schützen könnten. Thrall hat recht dich nicht gehen zu lassen. Du hast nie gelernt zu kämpfen und zu überleben. Du würdest den Heiligen Berg nie zu Gesicht bekommen. Die Kreaturen dort würden dich schneller zerreißen als du ihrer Gewahr werden könntest.“
„Ich muss es versuchen.“
Er schwieg eine Weile, lauschte dem Klang ihrer Worte nach. Dann nickte er.
„Du lässt dich also nicht davon abbringen.“
„Nein.“
„Thrall wird nicht zulassen, daß du chancenlos gehst. Und wenn er es täte, würde ich ihm persönlich den Hals dafür umdrehen. Aber ich werde mit ihm reden.“
„Danke, Drek’Thar.“
„Danke mir, indem du dich auf einen Kompromiss einlässt. Wenn ihr beide stur euren Willen durchsetzen wollt, haben wir am Ende zwei Verlierer mit eingeschlagenen Köpfen.“
Auf seinen Stab gestützt, wandte er sich um und ließ sie im Dämmerlicht des Kerkers allein.