Ich lernte mein Handwerk und erkundete die Welt, so gut es eben ging. Manchmal tat ich mich mit Grímur zusammen, um verschiedene Aufträge zu erfüllen. Er war ein treuer Gefährte, dessen druidische Fähigkeiten sich gut mit denen des Jägers verbanden. Noch immer hielt ich mich mehr an die Tauren als an die Blutelfen. Zwar grollte ich meinem Volk nicht mehr, jedoch fühlte ich mich bei den Tauren nach wie vor am wohlsten. Sie hatten mir eine zweite Heimat gegeben und sich meine uneingeschränkte Treue verdient.
Meine Freundschaft zu Grímur zwang mich hin und wieder in die Stadt, die die Orcs in Kalimdor errichtet hatten. Ich störte mich nicht an seiner Verbundenheit zu diesem Volk, hatte ich doch erlebt, dass Tauren und Orcs tatsächlich zu echter Treue und sogar Freundschaft untereinander fähig waren. Als Blutelfe jedoch traute ich ihnen nicht einen Schritt weiter als das Bündnis reichte. Wie mein eigenes Volk schienen sie stolz zu sein und zu ihrem Wort zu stehen, doch keiner von uns hätte sein Leben für den anderen gegeben. Es war eben nur eine zweckmäßige Loyalität begrenzten Ausmaßes.
Abgesehen von gelegentlichen Reisen mit Grímur war ich eine Einzelkämpferin. Ich verweigerte niemandem meine Hilfe, der darum bat, doch ich blieb reserviert und ging meiner Wege, sobald die Höflichkeit es zuließ. Es war Grímur, der mich dazu drängte seine neuen Kampfgefährten kennenzulernen. Meine Begeisterung hielt sich in Grenzen, doch ich wurde positiv überrascht. Die Gruppe verhielt sich hilfsbereit, aber unverbindlich. Man grüßte sich höflich und durfte von dem Wissen der erfahrenen Streiter profitieren, doch die meisten schienen Einzelkämpfer zu sein wie ich. Zwei große Hexenmeister waren darunter, der Orc Graodan und die Blutelfe Aeluinya, einst seine Schülerin, inzwischen jedoch fast dem Meister ebenbürtig. Beide bedienten sich der dunklen Magie des Nethers, doch während Graodan mich zunächst so wenig berührte wie jeder andere Orc, ging von Aeluinya eine betörende Anziehungskraft aus.
Anfangs war ich ihr wie allen anderen Streitern der Gruppe gegenüber reserviert. Seit unserem ersten freundschaftlichen Duell allerdings, bei dem ihr magischer Betäubungsschlag mich zu Boden streckte, war etwas in mir wach geworden, ein Drängen, Sehnen und Fiebern. Ihre Kunst, zu der ich zuvor immer eine gute Distanz gehalten hatte, wollte ich jetzt verstehen und hinterfragen. Ich redete mir ein, dass es eine taktische Entscheidung war, dass ich die Magie kennenlernen wollte, so wie man einen Feind kennenlernen und erforschen will, um seine Stärken und Schwächen zum eigenen Schild und zur Waffe zu machen. Ich redete mir ein, dass ich ihre Nähe suchte, weil ich mich nach dem freundlichen, ungezwungenen Kontakt zu meinem Volk sehnte, der bisher in dieser Form nicht denkbar gewesen wäre. Ich dachte sogar daran, dass es zwischen uns eine Art Seelenverwandtschaft gäbe. Die beschämende Wahrheit war: ihre Magie sprach zu mir, und ich lauschte begierig ihrem Flüstern.
Die Zeit, die ich dadurch mit ihr verbrachte, und die Gespräche, die wir führten, brachten mich dazu, meine Vorurteile gegen ihre Klasse ein wenig zu überdenken. Sie war ganz anders als ich es von einer Hexenmeisterin erwartet hatte. Sie war anders, als ich es von dem Volk erwartet hatte, daß mich in meiner Kindheit nur widerwillig geduldet hatte. Sie überraschte mich und schlich sich in mein Herz. Ich lernte sie in einer ihrer guten Phasen kennen und schätzen. Umso härter traf es mich, als sie eines Tages mit nethermantischen Reden um sich schlug, und ich verkroch mich wie ein geprügelter Wolf unter einer der schneebedeckten Tannen, um im Schlaf diesen Tag zu vergessen.
Als ich am Morgen in den Wäldern Winterquells erwachte, brachte mir die verschneite Schönheit, die mich am Vortag noch so sehr verzaubert hatte, keinen Frieden mehr. Sobald ich die Augen aufschlug, fühlte ich wieder das Toben meiner Seele. Aeluinya war schuld. Aeluinya, der ich gestern noch die Hand zur Freundschaft gereicht hatte, obwohl sie eine Blutelfe und Hexenmeisterin war. Die Aeluinya, wegen der ich nicht nur mit dem Kopf, sondern endlich auch mit dem Herzen zu der Einsicht gelangt war, dass sie vielleicht nicht alle gleich waren. So oft war sie mir mit Freundlichkeit und einer Offenheit begegnet, die meinem Volk nicht eigen war, und hatte mich Unsicherheit und Zweifel erkennen lassen, die sie von den sonst so arroganten und selbstverliebten Nethermanten unterschied. Mit ihrem ganzen Wesen hatte sie den Zorn gezähmt, der noch immer wie ein wildes Tier in mir wohnte, und damit die Sehnsucht nach Meinesgleichen befreit, die mich jetzt wie einen dummen Welpen in die Klinge hatte rennen lassen.
Zweifel ließen mich einen Moment in meiner Wut innehalten. Hatte sie nicht genauso geklungen wie ich, wenn ich mich bemühte, die unterkühlte und überhebliche Art meines Volkes zu imitieren? Hatte in ihren Worten nicht die gleiche, einstudierte Täuschung gelegen, mit der auch ich mein eigenes Wesen Fremden gegenüber zu verbergen suchte? Oder war es genau das, was sie mich glauben machen wollte? Hatte sie nicht auch gesagt, dass sie sich vom Leid anderer ernährte? War ich doch ganz einfach der Hase, mit dem das Luchsjunge spielte, bevor es den tödlichen Biss tat? Ich verfluchte den Tag, an dem die Sehnsucht nach einem Volk erwacht war, das mit mir doch nicht mehr gemein hatte als das Blut, das durch unsere Adern floss.
Der kleine Manawyrmling, den sie mir zum Geschenk gemacht hatte, schmiegte sich an mich und rollte sich in meinem Hemd für ein weiteres Schläfchen zusammen. Ich stand auf, klopfte mir den Schnee von den Kleidern und rief nach Feuergold, der auf seinem Schlafast sein Gefieder putzte. Er flog zu mir und strich mir zum Gruß mit einer Schwinge über mein Haupt. „Wir werden nie so sein wie die anderen“, erklärte ich ihm. Zur Antwort hauchte er seinen Feueratem in die kalte Morgenluft. „Ja, wir sind aufbrausend und kennen den Hass, und das wird uns immer von ihnen trennen. Aber wir haben einander, und das soll uns genügen.“ Doch der alte Taure hatte mich zu lange gelehrt zu mir selbst ehrlich zu sein, und so konnte ich, als meine Augen wie Feuer brannten, nicht leugnen, dass ich es zugelassen hatte, ein weiteres Mal verletzt zu werden. „Das gibt ein reiches Frühstück für Euch, Hexenmeisterin“, murmelte ich und stürzte mich kampfestoll in die Wildnis.
Ruhelos zog ich durch unbekannte Lande, durchschritt eines nach dem anderen ungeachtet der Gefahr, die dieses blinde, ziellose Wandern mit sich brachte. Ich fürchtete den Tod nicht. Mein Schwert färbte sich vom Blut meiner Angreifer, meine Flinte glühte, bis sich der Lauf von der Überanspruchung verzog, und als meine Waffen nichts mehr nutzten, tötete ich mit bloßen Händen und Feuergolds scharfen Krallen alles, was es wagte, sich gegen mich aufzulehnen. Meine Wut machte mich stark. Einmal hörte ich ihren Gruß aus der Ferne, und mein Groll trug mich durch die Westlichen Pestländer, doch bis zu ihrem Abschied hüllten wir beide uns in Schweigen, und als sie ging, verrauchte auch meine Wut. Was blieb, war meine alte Freundin, die Verbitterung, und eine große Traurigkeit.
Mit Mühe und Not rettete ich meinen Falken, den ich an den Rand der Erschöpfung getrieben hatte, und mich selbst nach Donnerfels, wo wir in der Obhut eines Volkes, das wir schätzten, unsere Wunden lecken und die müden Häupter zur Ruhe betten durften. Niemals hatte ich Kintan so schmerzlichst vermisst wie in dieser Stunde. Niemals fühlte ich mich so sehr von der Welt verlassen.
Die Tage zogen dahin. Mulgore zeigte sich von seiner trübsten Seite, unaufhörlich fiel ein träger, aber beharrlicher Regen, und wir kehrten bald zurück in die Pestländer, wo düstere Aufgaben auf uns warteten. Dieses Mal kämpften wir uns mit mehr Sinn und Verstand durch das öde Land, weniger um meiner selbst Willen, sondern weil Feuergold nach dem ersten Ausruhen in Donnerfels so viel Lebenslust beim Spiel mit den Taurenkindern an den Tag gelegt hatte, dass ich jetzt vor schlechtem Gewissen fast umkam. Er war mein Begleiter und würde ohne zu Zögern für mich in den Tod gehen. Ich durfte sein Leben nicht sinnlos gefährden.
Mit den dahinziehenden Tagen sah ich die Dinge in einem anderen Licht. Ich verstand selbst nicht mehr, warum ich so aus der Haut gefahren war. Ael war eine Dunkelmagierin, die schon so tief mit dem Nether verbunden war, dass sie niemanden mehr schätzen konnte, der nicht die dunklen Künste ausübte, und sie würde noch tiefer eintauchen, bis der Nether sie verschlang. Die Tatsache, dass sie sich dessen bewusst war, änderte nichts. Es war mein Wunschdenken gewesen, daß ihr Anderssein sie vor der Verderbtheit würde retten können, dass es sie zu jemandem machte, der den Nether wahrhaftig beherrschte, ohne letztendlich von ihm mitgerissen zu werden.
Warum lag mir so viel daran, diese Illusion aufrechtzuerhalten? Befleckte ihr Versagen das Andenken meines Vaters? Glaubte ich wirklich, dass auch er irgendwann den Verlockungen der Nethermagie nicht mehr standgehalten hätte, wäre sein Leben nicht durch den Brand vorschnell ausgelöscht worden? Oder suchte ich in ihr das Vorbild, den lebenden Beweis, dass es eben doch möglich war die Magie zu beherrschen? Seit ich sie im Kampf erlebt hatte, vernahm ich das Flüstern, das Locken und Drängen, das von ihrer Macht ausging. So sehr ich meine eigenen, bescheidenen arkanen Kräfte auch zu konzentrieren versuchte, erschienen sie mir doch jämmerlich schwach im Vergleich zu dem, was der Nether mir versprach. Sollte Ael lediglich meine Rechtfertigung sein, um mich den einst so verhassten dunklen Künsten zuzuwenden?
Ich vermochte mich selbst nicht mehr zu lesen. Nur eines war mir klar, als das Schweigen und die Entfernung zwischen uns sich wie ein körperlicher Schmerz manifestierte: etwas hatte mich mit ihr verbunden, und ich würde mein Leben und das meines Falken geben, um Übel von ihr abzuwenden. Jemand, von dem ich weder Achtung, noch Treue, noch Freundschaft erwarten durfte, war mir lieb und teuer geworden.
Mit einem Mal musste ich an den Tag am Verdantis zurückdenken, als ich mit ihr gemeinsam die Angel ausgeworfen und sie mir mitten in der wilden Schönheit Feralas ihre Gedanken offenbart hatte. Daran, wie sie mir den Weg an den fürchterlichsten Drachkin vorbei freigemacht und mit mir zusammen einen Fallschirmsprung von den Zwillingskolossen gewagt hatte. Daran, wie sie mir nachgeritten war und aus einigem Abstand zugesehen hatte, wie ich mit einem der stärksten Bären dort rang. Plötzlich sah ich sie ganz klar vor mir, als wäre dieser Moment nie Vergangenheit geworden – da war nichts von der Arroganz und Herablassung gewesen, mit der sie mich so getroffen hatte. Kein Spott und keine Ablehnung, keine Berechnung, keine Falschheit. In jenem Moment hatte sie mir Achtung, Vertrauen und Respekt entgegengebracht, ganz gleich, was sie sagte.
Erhobenen Hauptes und klaren Herzens kämpfte ich mich durch Silithus und wartete darauf ihren Gruß zu hören. Ich war wieder bereit ihr entgegenzutreten.
Die Tage ohne sie flossen zäh dahin. Überall hatte ich Aufgaben zu erfüllen, doch nichts wollte mir so recht gelingen. Ich wurde ruhelos und unkonzentriert, meine Kraft und mein Geschick ließen mich im Stich, und ich fühlte mich, als würde ein Fieber in mir wüten. Die Pestländer, in denen ich noch das meiste zu erledigen hatte, griffen jetzt mein Gemüt an, doch auch die Schönheit Un’Goros schien dahin, und selbst in Mulgore hatte ich den Eindruck, daß die Wiesen vor einiger Zeit noch viel grüner gewesen waren.
Es war merkwürdig still auf der Welt. Tagelang konnte ich wandern, ohne auf eine fremde Seele, geschweige denn auf einen Freund zu treffen, und so begleiteten mich statt der Lebenden die Geister der Vergangenheit. Manchmal schien es mir, als ob ich allein auf der Welt zurückgeblieben war. Natürlich wusste ich, daß dieser Eindruck täuschte. Ich brauchte nur in die Städte gehen, um auf Leben zu stoßen. Und doch blieb diese Angst, deren Kälte mir bis ins Mark drang, mir den Atem raubte, die mich aus ihrer eisigen Umklammerung nicht mehr freigeben wollte: ich würde allein zurückbleiben, immer und immer wieder.
Meine Eltern und Kintan hatte ich bereits an den Tod verloren, Paukaja an die Traurigkeit, die wie eine unüberwindbare Mauer zwischen uns stand. Grímur, den ich trotz aller Weigerung irgendwann doch schleichend ins Herz geschlossen hatte, würde eher früher als später den Folgen seines Übermuts und seiner Tolldreistigkeit erliegen. Graodan, den ich schätzen gelernt hatte, obwohl er ein Orc und ein Hexenmeister war, mochte in seinen besten Jahren sein, doch war er als Angehöriger einer all zu sterblichen Rasse in meinen Augen nur einen Wimpernschlag vom Tod entfernt, und Aeluinya… Der Nether würde sie mir mit einem Lachen entreißen.
Doch so viel Kummer und Schmerz freundschaftliche Bande auch mit sich bringen, wenn sie eines Tages zerschnitten werden, sind sie bis zu diesem traurigen Moment doch oft ein Instrument der Hoffnung und eine Rettung in schweren Zeiten.
Als ich jetzt vor der Übermacht der Scharlachroten Ritter kapitulierte und in den Reihen der Untoten so sehr in Bedrängnis geriet, daß mir auch der letzte Funke Mut schwand, überlagerte plötzlich der Geruch eines nassen Wolfspelzes den Gestank der Verwesung. Grímur war neben mir aufgetaucht, und auch Aeluinya machte sich auf den Weg und blieb den großen Schlachtfeldern fern, um sich mit uns den Aufgaben zu stellen, die ich allein nicht einmal mehr ins Auge fasste, seit die Verzweiflung mein Herz ergriffen hatte.
Gemeinsam kämpften wir uns durch den Tempel von Atal-Hakkar, bis ich schließlich die ersehnte Trophäe in den Händen hielt, ohne die mein Lehrer mich nicht weiter unterrichten wollte – der Zahn des schrecklichen Drachen Morphaz. Jede Minute an der Seite meiner Gefährten tröstete meine geschundene Seele, ich fasste neuen Mut, und da die Müdigkeit endlich von mir wich, wagten wir auch noch den Kampf gegen den Lich Araj. Seine Gewalt hatte mich schon des öfteren auf dem Grat zwischen Tod und Leben wandeln lassen. Nun war die Hexenmeisterin an unserer Seite, und während Grímur, Feuergold und ich vielleicht vier oder fünf Diener der Geißel gleichzeitig in Schach hielten, stand sie da, fegte mit dem Zorn einer Göttin die Armeen der Skelettritter nieder und ließ von Araj selbst nur einen Haufen Asche übrig. Um ein Haar hätte ich mein Schwert fallen lassen, so hingerissen war ich von der Schönheit ihres Kampfes, von der atemberaubenden Macht, die alles um sie herum in ein anderes Licht tauchte. Es war berauschend, betörend, brachte mein Blut zum Rasen, ergriff mich bis in die Tiefe meiner Seele und lockte mit so verführerischen Rufen, dass es mich fast zerriss.
Meine Gefährten blieben an meiner Seite. Ich war nun zu der Stärke gelangt, um das Portal in die Scherbenwelt nutzen zu können. Ich wusste nicht, was mich erwartete. Vielleicht hatte ich gedacht, dass es ähnlich wie die Ankunft in Kalimdor sein würde – es war schon ein aufregendes Gefühl gewesen, den Fuß das erste Mal auf einen unbekannten Kontinent zu setzen, aber die Länder dort waren den Gegenden der Östlichen Königreiche gar nicht so unähnlich. Auf die Höllenfeuerhalbinsel war ich nicht vorbereitet gewesen.
„Willkommen im Nether“, begrüßte mich Aeluinya, als sie kurz nach mir ankam. Ich war nicht in der Lage zu antworten. Dieser Himmel… Wenn es denn Himmel war. In der alten Welt hatte der Himmel viele Gesichter und viele Schattierungen, doch stets wirkte er wie das Dach der Welt, unerreichbar, aber doch endlich. Hier thronte über unseren Köpfen die Ewigkeit, das Unermessliche, und der Zauber längst vergessener Götter wirbelte unvergänglich Farben in den Raum, der keine Grenzen kannte.
Auf dem Flug nach Shattrath hatte ich nicht einen Blick für die Welt unter mir. Ich schaute in die Unendlichkeit und spürte zum ersten Mal seit langem wieder Frieden in mein Herz einkehren. In der Stadt angekommen, betraten wir eine riesige Halle, in der zahlreiche Portale in alle Richtungen daran erinnerten, dass hier einst der Dreh- und Angelpunkt der zivilisierten Welt gewesen war. Was jedoch zuerst meine Aufmerksamkeit für sich beanspruchte, war das strahlende Lichtwesen in der Mitte der Halle – eine Naaru. Mit beinahe kindlicher Freude und Ehrfurcht trat ich langsam auf sie zu und sprach sie in banger Erwartung an. Sie grüßte mich freundlich, und eine Wunde in meinem Inneren begann sich zu schließen.
„Baukunst der Blutelfen“, erklärte Aeluinya das Sonnenbrunnenmodell. Ich konnte nur nicken, so sehr war ich noch mit den auf mich einstürzenden neuen Eindrücken beschäftigt. Die Hexenmeisterin sorgte gleich für den nächsten. Während ich meinen Blick noch durch die Halle schweifen ließ, hörte ich Grímur sagen: „Ein wirklich schönes Tier.“ Als ich mich umwandte, schwebten sie vor mir wie einem Gemälde entsprungen, die Hexenmeisterin und ihr blauer Netherdrache. „Ja, er ist mir immer noch das liebste Flugtier“, stimmte sie zu.
Wie hatte sie dieses Tier gezähmt? Wie hielt sie ihn unter Kontrolle, womit bändigte sie ihn? Soviel ich wusste, gehörten die Netherdrachen zu den stolzesten und mächtigsten Wesen überhaupt. Wie konnte so ein Drache zu einem treuen Begleiter werden? Kintan hatte mich gelehrt ein Wildtier zu zähmen. Nicht jedes Tier war dafür geeignet, manche schätzten ihre Freiheit mehr als ihr Leben, doch andere akzeptierten den, der geduldig ihre Angriffe über sich ergehen ließ und dabei mit sanfter Stimme auf sie einredete, bis sie des Kampfes müde wurden, schließlich als ihren Herren. Ich hatte diese Erfahrung gemacht, weil es zu meiner Ausbildung gehörte, und ich wusste, dass die meisten Jäger auf diese Weise ihren Begleiter fanden. Mir persönlich kam es natürlich so vor, als ob meine Verbindung zu Feuergold noch viel intensiver war, als es die zu einem gezähmten Tier je sein konnte. Mein Begleiter hatte mich gewählt, aus freiem Willen. Vielleicht hatte er mich gezähmt – hatte er nicht Tag für Tag für mein Wohl gesorgt, obwohl ich lange nicht bereit war ihm mein Herz zu öffnen? Als ich damals beim Kampf mit den Orcs meinen Widerstand aufgegeben und in Angst um sein Leben einen Namen für ihn gefunden hatte, waren wir eins geworden, ein Jäger, ein Sinn und eine Seele.
Auch ich besaß Reittiere, sie mochten gut und treu sein, doch waren sie von niederer Intelligenz und empfanden keine Demütigung, wenn sie sich meinem Willen unterwarfen. Wie konnte sich ein Wesen wie der Netherdrache zu solchen Aufgaben herablassen? Ich wagte nicht zu fragen, nicht einmal, ihm in die Augen zu schauen, aus Angst, einer von dunklen Mächten gefesselten und gequälten Seele entgegenzublicken. Dies war kein Tag für düstere Themen und keiner für moralische Diskussionen. Es sollte ein Tag des Aufatmens sein, der Tag, an dem meine Trübsal ihr Ende fand.
Ael zeigte uns ihren Aussichtspunkt, von dem aus man die Stadt wunderbar überblicken konnte. Ehrfurchterweckende Bauwerke mitten in einer zerklüfteten, kargen Landschaft unter einem Himmel, der hier zwar nicht das Farbenspiel der Götter zeigte, der mit seinem fahlen Mondlicht aber genug Dunkelheit für das Leuchten unzählbarer Sterne bot. Mir gefielen diese bizarre Schönheit und die Wehmut, die im Echo vergangener, besserer Tage mitschwang, weil ich es genau so gerade kennenlernte. Dennoch konnte ich auch Aeluinyas Kummer nachfühlen, als sie sagte: „Früher war hier alles voller Leben.“ Sie hatte schon öfter erwähnt, wie traurig sie der Anblick des heutigen Shattraths machte. Sie hatte die glorreichen, strahlenden Tage der Stadt miterlebt, war ein Teil davon gewesen. Diese Tage waren vorbei, und die Zukunft versprach keine besseren.
Shattrath würde mehr und mehr in Vergessenheit geraten, und im Angesicht der Abermillionen Sterne war es kein Trost, dass an dem Tag, an dem es endgültig zu Ruinen verfiel, am Himmel ein neuer Stern geboren werden würde, konnte man ihn zwischen den Mahnmalen all der anderen vergessenen Werke und Helden doch unmöglich ausmachen.
Einen kurzen Moment lang spürte ich den Impuls ihre Hand zu ergreifen, doch ich besann mich noch rechtzeitig auf die Gepflogenheiten unseres Volkes und unterließ diese Geste des Trostes. Eine Welt, in der Leben ist, ist immer auch eine Welt des Wandels, und im Moment des Verlusts sind wir alle einsame Inseln im Strom der Zeit, die sich niemals berühren werden.
2 Antworten auf „Der Weg nach Shattrath“
Die Geschichte ging ja schneller weiter als erwartet. Und ich spiele sogar eine bedeutende Nebenrolle. 🙂 Nur eines muss ich berichtigen. Als Ael mit großem Stolz „Baukunst der Blutelfen“ sagte, zeigte sie auf das Modell des Sonnenbrunnenplateaus in der Mitte der Halle. Shattrath wurde schließlich von den Draenei gebaut – so klumpig bauen doch keine Blutelfen. 😉 Ansonsten kann ich meinen ersten Kommentar hier nur wiederholen: Mir fehlen die Worte. Eine wunderbar geschriebene und ergreifende Geschichte über die Jägerin.
Vielen Dank für’s Korrekturlesen und Schmeicheln. 🙂 Nun wird es sicherlich etwas länger dauern, die Geschichte der letzten Tage ist niedergeschrieben, und bevor nicht neue Abenteuer oder Streitereien mit zickigen Hexenmeisterinnen vergehen, werde ich geduldig auf neuen Stoff warten. Ich bin selbst sehr gespannt, wohin das alles führen wird… und welch finstere Rolle Ihr vielleicht noch spielen werdet. *Düsteres ahnend*