Nurm blinzelte kurz und folgte dann dem Orc. Dieser war gerade dabei, sich mit einem großen, feuchten Lappen das Gesicht zu säubern. Dann fuhr er fort, seine Hände zu reinigen. Als er damit fertig war, stampfte er den Lappen zu einem Knäuel zusammen und warf ihn in eine Ecke. Der Orc, dem Äußeren nach unverkennbar ein Krieger, warf dem Untoten einen kurzen Blick zu und setzte sich dann an einen Tisch. Der Wirt, ein Untoter, einer Verlassener, kam sogleich angeeilt, nicht bevor er den Lappen aufgelesen hatte, und stellte dem Orc einen Humpen hin, gefüllt mit frischem Bier. Mit halbgeschlossenen Augen betrachtete der Orc den Humpen, dann den Wirt. Der Wirt sah den Orc irritiert an, er wußte, dass er einen Fehler gemacht hatte, aber nicht welchen. Der Orc seufzte. Der Wirt schluckte trocken und faßte sich dann ein verwestes Herz:
"Stimmt etwas nicht ?"
Der Orc zeigte auf den Humpen. Das Bier sah frisch und erfrischend zugleich aus.
"Ja ?", hakte der Wirt mit hoher Stimme nach.
Der Orc zeigte ermeute auf den Humpen.
"Was ?", fragtte der Wirt mit hoher Piepsstimme und sah sich nervös um. Nurm näherte sich interessiert dem Geschehen.
"Das ist Bier."
Der Wirt nickte freudig, musste dann aber bemerken, dass es den Orc so gar nicht erfreute. Ergebungsvoll sah der Wirt den Orc weiter an.
"Warum ?", fragte der Orc.
Nun strahlte der Wirt über seinen verfallenen Züge, denn ihm fiel eine gescheite, und seiner Meinung nach die einzig richtige Antwort ein:
"Weil es jeder trinkt. Es ist Braufest."
Der Orc seufzte.
"Seit wievielen Jahren komme ich hierher, Wirt ?"
Der Untote versuchte an seinen viereinhalb Finger die Jahre zu zählen, ließ es aber dann bleiben. Der Orc nickte trotzdem.
"Genau, seit fast fünf Jahren."
Der Wirt nickte freudig.
"Und habe ich jemals Bier oder ein sonstiges alkolholisches Getränk zu mir genommen ?"
"Nein", antwortete der Wirt und fuhr dann aufgeregter fort, "aber es ist Braufest und jeder trinkt Bier."
Mit flacher Hand schlug der Orc auf den Tisch, einige Krüge fielen klirrend auf den Boden.
"Und nur weil Arthas in Nordend sein Unwesen treibt, lutsche ich noch lange keine Eiszapfen, verflucht !"
Der Wirt wich furchtsam zurück.
"Gebt mir Wasser, verdammmich ! Wir sind im Krieg ! Verrat kann jederzeit über uns hereinbrechen und Ihr kommt mir mit Bier !! " Der Orc funkelte den Wirt böse an.
"Oder tut Ihr es absichtlich ? Wollt Ihr die Armeen weit hinter der eigentlichen Front besäuseln und schwächen ?"
Der Wirt schüttelte panisch den Kopf.
"Ich bin ein Krieger der Finsteren Streiter ! Holt mir klares Wasser !!"
Der Wirt beeilte sich sehr, diesem Wunsch nachzukommen.
"Bei Thrall, der Feind rüstet sich und Kalimdor liegt im Alkoholrausch…wahrscheinlich auch ganz Lordaeron…wozu eigentlich der ganze Kampf…", murmelte der Orc vor sich hin.
Nurm setzte sich ebenfalls an den Tisch. Der Wirt stellte einen großen Humpen Wasser vor den Orc.
"Verzeiht mir bitte, Gorrtak, ich war zu sehr auf das Tagesgeschäft fixiert."
"Tagesgeschäft…", entgegnete Gorrtak, "während Ihr hier Eure Kupfermünzen zählt, verlieren gute Kämpfer ihr Leben dort draußen. Und wozu ? Damit Ihr armseliges, minderwertiges Kupfer zählt."
Der Wirt blinzelte.
"Minderwertig ?", fragte er nach.
Gorrtak nahm einen Schluck einen Wasser und nickte.
"Ich habe die Münzen dort hinten bei Euch auf den Tresen gesehen. Das ist zwar Kupfer, aber mit einem hohen Sandanteil. Man erkennt es am Glanz. Würde mich nicht wundern, wenn sie bei etwas höherer Temperatur anfangen zu brechen."
"Diese verfluchte Gobblins !", entfuhr es dem Wirt zischend und rannte zum Tresen. Nun bemerkte Gorrtak, dass er beobachtet wurde.
"Nun, Priester", sagte der Orc, " Was bringt Euch ins Brachland ? Abenteuer ? Gold ? Ehre ?" Gorrtak lachte rauh.
Nurm gab nicht sofort eine Antwort, sondern wählte seine Worte mit Bedacht.
"Das Licht hat mich hierher geführt, doch der Sinn erschließt sich mir noch nicht."
Der Orc hob kritisch seine Augenbrauen.
"Ihr habt den langen Weg von Tirisfal bis hierher angetreten, weil Euch ein Licht aufgegangen ist ?" Der Orc fand seinen Witz lustig, er war aber der einzige, der lachte. Gorrtak bemerkte dies.
"Verzeiht mir, Priester. Ich wollte mich über Eure ehrenwerte Absichten nicht lustig machen."
Nurm wehrte ab.
"Nein, vielleicht habt Ihr recht, und es ist wahrhaftig ein Witz, dass ich überhaupt hier bin. Ich hatte gehofft, dass ich hier einen Sinn finden würden… einen Sinn, dem Licht im eigentlichen zu dienen."
Gorrtak hob die Augenbrauen.
"Ihr habt heilende Hände, oder ?"
Nurm nickte.
"Nun", entgegnete Gorrtak und breitete die Arme aus.
"Nun was ?", fragte Nurm nach.
"Heilt", antwortete Gorrtak und grinste.
Nurm seufzte schwer.
"Wen soll ich denn von welchen Wunden heilen ?", sagte Nurm. "Einen Tauren da draußen, der sich beim Laufen den Knöchel verstaucht hat ? Einen Troll, der sein Mojo vermisst ? Einen jungen Orc, der von einem Raptor angefallen wurde ?"
Der Untote schüttelte den Kopf.
"Ihr sagtet vorhin selbst, dass man woanders viel mehr gebraucht wird als hier, doch ich bin nur ein junger, untoter Priester, der sich kaum zu wehren vermag."
Gorrtak sah Nurm mit zusammengekniffenen Augen an.
"Ihr habt einen Kampfgeist in Euch, der kaum von Eurer Frömmigkeit übertroffen wird", schloss der Orc.
Nurm wollte aufbegehren, doch der Orc wehrte ab.
"Es wäre nahezu verwerflich, dieses seltene Gut nicht zu fördern. Und ich sage Euch, das Licht hat Euch doch auf einen rechten Weg geführt."
Nurm sah ihn verwirrt an.
"Ich bin Gorrtak, ein Krieger der Finsteren Streiter. Und ich denke, dass Licht hat Euch den rechten Weg in diesen finsteren Zeiten gewiesen. Wenn Ihr einverstanden seid, werde ich gern Sorge dafür tragen, Kampferfahrungen zu sammeln."
Nurm schluckte. Kampferfahrungen ! Er war Priester ! Doch wenn er die Schmach von Arthas rächen wollte, mußte er sich einem Kampf stellen. Nurm lächelte schief.
"Ich hätte nicht mit so etwas gerechnet. Die Orcs erschienen mir bislang ein wenig….roh".
Gorrtak lachte.
"Und deshalb unterschätzt uns der Feind." Gorrtak nahm einen Schluck Wasser.
"Nun gut. Lasst mich kurz überlegen…." Gorrtak fiel in tiefe Überlegungen…"…hmmm….ja…"
Gespannt wartete Nurm auf die nächsten Worte des Orcs.
"Ich werde die Streiter aufrufen und man wird sich bei Euch melden."
Nurm strahlte.
"Und dann begebt Ihr Euch in die Höhle des Wehklagens", verkündete Gorrtak freudestrahlend.
Nurms blasse Gesichtshaut verblasste noch mehr und er schaute mit offenen, erschrockenen Mund den Orc an.
Den verzweifelten Aufschrei des Wirtes, der an der offenen Herdstelle stand und Stücke von zerbrochenen Kupermünzen in den Händen hielt, hörte er nicht.
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2 Antworten auf „Die Erkenntnis“
ooc: Vielen Dank für ein herzliches Lachen nach einem schrecklichen Arbeitstag. Der viereinhalbfingrige Untote war großartig. Und Gorrtaks ablehnende Haltung gegenüber benebelnden Getränken hat natürlich ebenfalls großen Anklang gefunden. Ich wäre doch sehr verwundert, wenn sich der fast schon kultivierte Orc plötzlich als Rohling outen würde… *grinst*
So langsam glaube ich ja, der Orc Krieger – oft ja eher ein Synonym für „dumm und dümmer“ 😉 – ist der kultivierteste aller Streiter. Hoffentlich erleben wir den Wirt in der weiteren Geschichte noch mal. Für mich schon jetzt eine Oscar-verdächtige Nebenrolle. 🙂