Sie hatte sich in eine kleine Hütte in der Nähe der Bluthufe zurückgezogen. Es war nicht schwer sie zu finden, wenngleich kein Weg zufällig an ihrer Zuflucht vorbeiführte. Ich kam nicht in die Verlegenheit an der Tür klopfen zu müssen. Sie kniete zwischen den Kräuterbeeten und rupfte Unkraut. Als ich zögerlich auf sie zuging, drehte sie sich vorsichtig um, als bereite ihr die Bewegung Schmerzen. Ihr Gesicht war alt und faltig geworden, doch in ihrem Blick leuchtete es auf, als sie mich erkannte.
„Kind, seid Ihr es wirklich?“ Sie erhob sich schwerfällig und schloss mich in die Arme. Ich stand etwas steif und unbeholfen da, bis ich auf die Idee kam, die Umarmung zu erwiedern. Seit Jahren hatte mich kein anderer als Feuergold mehr berührt. Es war ein sonderbares Gefühl, von so viel körperlicher Nähe überflutet zu werden. Ich hätte nicht sagen können, ob es angenehm oder unangenehm war, so fremd kam es mir vor.
„Lasst Euch ansehen. Ihr wirkt erschöpft. Kommt ins Haus, ich bereite uns einen Kräutertrank zu.“ Schon zog sie mich hinter sich her, ließ mich auf einem der dicken, geknüpften Teppiche Platz nehmen und hängte einen Kessel über das Feuer, in den sie herrlich duftende Kräuter gab.
„Ich danke Euch für den freundlichen Empfang. Wie geht es Euch, Paukaja?“
„Ihr seid mir hier immer willkommen, Kind. Es tut gut, Euch nach so langer Zeit wiederzusehen… Wie hat es Euch in Silbermond gefallen?“ Ich ließ zu, daß sie der Frage nach ihrem Befinden auswich. Ihr gebeugter Rücken sprach Bände.
„Ich habe überall im Immersangwald ein wenig helfen können und mir das Wohlwollen der Bewohner verdient.“
„Das freut mich sehr. Habt Ihr Freunde gefunden?“
„Nicht dort, doch anderswo. Erinnert Ihr Euch an Grímur?“
Sie lächelte. „Natürlich. Ein freundlicher kleiner Wildfang. Er hat seinen Eltern so manches Mal an den Rand der Verzweiflung getrieben. Ach, was rede ich… Auch mich hat er zur Verzweiflung getrieben! Es war noch vor Eurer Zeit bei uns, da stahl sich der Kleine immer in unser Zelt und warf heimlich Steine in den Kessel. Er behauptete immer, er wolle wissen, ob dieser oder jener Stein der Suppe einen besseren Geschmack gäbe. Er war ein kleiner Teufel.“
„Nun, seine Kochkünste haben sich geringfügig verbessert“, lachte ich, „aber den Übermut hat ihm noch niemand ausgetrieben. Er stellte mich vor einiger Zeit seinen Freunden vor, einem bunt gemischten Haufen mutiger Streiter. Sie waren so freundlich, mich in ihre Gemeinschaft aufzunehmen. Anfangs war ich ein wenig skeptisch wegen all der Orcs, doch inzwischen fühle ich mich sehr wohl damit.“
„Erzählt mir von ihnen.“
Und ich erzählte, von Graodan, Gorrtak und Wargrok, von Khylon und Tinuzar und Nurm und schließlich sogar ein wenig von Aeluinya. Hier jedoch verlor ich mich oft in Sprachlosigkeit, mein Herz wollte die richtigen Worte einfach nicht finden, und so war ich dankbar, als Paukaja ihre Hand auf meine legte und nur sagte: „Es ist schon gut, Kind. Irgendwann werdet Ihr mir von ihr erzählen können. Bis dahin denkt daran, daß kein Kummer ewig währt. Lasst uns lieber von etwas Heiterem sprechen. Habt Ihr Euch einen Gefährten gesucht?“
„Feuergold begleitet mich nach wie vor, einen anderen Begleiter wünsche ich gar nicht.“
Sie schmunzelte. „Dummes Ding… Ich rede von einem Mann. Was ist mit diesem Krieger?“ Um ein Haar hätte ich den Kräutertrank verschüttet, den ich gerade an die Lippen hatte führen wollen.
„Ich wüsste nicht, wozu ich einen Mann bräuchte, und selbst wenn es anders wäre, würde ich niemals einen… einen ORC wählen!“ platzte es aus mir heraus.
In Paukajas Augen blitzte es vergnügt, während sie ihre Fragen wie Pfeile auf mich abschoss: „Einen Blutelfen?“ – „Nein.“ – „Einen Tauren?“ – „Nein.“ – „Einen Untoten?“ – „Möge ein Schattenblitz mich niederstrecken, sollte ich je auf den Gedanken kommen!“ – „Einen Troll?“ – „Pah…“ – „Da bleibt nicht mehr viel übrig. Ihr seid eine starke junge Elfe geworden, doch wie mir scheint, habt Ihr die Freuden der Liebe noch nicht gekostet.“ Ich verzog angewidert das Gesicht, während sie fortfuhr: „Vielleicht werdet Ihr irgendwann anders darüber denken.“
Ich war aufgestanden und in dem kleinen Raum hin und her getigert, als das Gespräch so eine lächerliche Wendung genommen hatte. Nun stampfte ich unwillig mit dem Fuß auf. „Ich habe nicht vor, mich jemals einem Mann welchen Stammes auch immer zu unterwerfen“, rief ich empört. Sie lachte nur. „In mancher Hinsicht habt Ihr Euch verändert, aber in dieser nicht. Kintan verglich Euch oft mit einer Wildkatze. Das Fauchen habt Ihr nicht verlernt. Denkt an Feuergold. Hat er sich Euch unterworfen, oder hat ihn die liebe zu Euch gezähmt? Ist er dadurch nicht stärker und geschickter als seine Artgenossen geworden?“
Ich zog es vor, nicht darauf zu antworten. Mit Paukaja zu diskutieren hatte keinen Sinn. Sie hatte schon immer jedes Wortgefecht für sich entschieden.Stattdessen fragte ich sie: „Wie zur Hölle kommt Ihr ausgerechnet auf Gorrtak?“ – „Er hat um Euch geworben, und Ihr habt ihn darin bestärkt.“
Ich starrte sie völlig entgeistert an. Bisher hatte sie ein wenig älter, aber sonst ganz wie früher gewirkt. Jetzt war ich mir sicher, daß sie in ihrer Einsamkeit und Abgeschiedenheit den Verstand verloren hatte. „Was redet Ihr da? Wie kommt Ihr darauf?“
„Ihr sagtet, Ihr seid zu zweit auf der Jagd gewesen.“
„Ja, und??“
„Ihr kennt die Orcs schon länger als ich. Wollt Ihr mir wirklich erzählen, Ihr wüsstet nicht, wie ein Orc um eine Gefährtin wirbt?“
„Es gab nicht gerade viele Orcfrauen auf dem Schiff, das uns nach Kalimdor brachte. Mal ganz davon abgesehen, daß mich dergleichen noch nie interessiert hat“, schnaubte ich.
„Er lädt sie zur Jagd ein. Stimmt sie zu, bekundet sie damit ihr Interesse an – “
„Nein! Das ist etwas ganz anderes! Vielleicht habt Ihr es in all den Jahren nicht bemerkt, aber ich bin KEIN Orc. Wenn ich mit jemandem jagen gehe, gehe ich mit ihm jagen, mehr nicht. Er hat mir lediglich geholfen, weil er ein Finsterer Streiter ist wie ich und weil ich jemandes Hilfe brauchte, als er die Zeit dafür erübrigen konnte.“
„Soso.“
„Das ist doch blanker Unsinn.“
„Verstehe.“
„Ihr glaubt doch nicht, daß er denkt, ich würde…“
„Nein, natürlich nicht.“
Ich stampfte wieder unwillig auf. „Ich gehe angeln. Auf bald.“
„Ita?“ rief sie mir hinterher. „Nachahmung ist ein deutliches Zeichen der Bewunderung.“
Angesäuert blickte ich zurück. „Und was soll das jetzt wieder heißen?“
Sie grinste. „Blutelfen stampfen nicht, wenn ihnen etwas nicht gefällt. Und Ihr habt es auch noch nicht getan, als Ihr zu uns kamt. Welcher Orc hat es Euch angewöhnt?“
„Ich werde zum Abendessen zurücksein“, murmelte ich grimmig und zog meiner Wege.
Das Angeln währte nur kurz. Mit vier halbwegs ansehnlichen Fischen in der Tasche flog ich per Luftschiff von Donnerfels nach Orgrimmar. Ich wollte mir nicht noch eine Nacht um die Ohren schlagen, nur weil Paukajas Flausen in meinem Kopf herumspukten. Nach kurzer Suche stand ich vor seiner Tür und klopfte energisch, solange meine Verärgerung über das Gespräch mit meiner Ziehmutter andauerte und ich mich nicht fragte, was für eine dumme Idee mich geritten hatte. Ein bekanntes grünes Gesicht mit unbekannten dunklen Flecken – Tinte? – schaute mir durch den Türspalt entgegen. „Jägerin, seid gegrüßt! Welch unerwartete Freude Euch zu sehen. Kommt herein ans Feuer und – “
„Nein“, unterbrach ich ihn etwas barscher als beabsichtigt. Meine Stimme wollte mir nicht so recht gehorchen. „Entschuldigt die Störung, Gorrtak. Ich darf den Zeppelin nicht verpassen. Nur ein paar Fragen: Erinnert Ihr Euch an unseren Jagdausflug?“
Er sah ein wenig verdutzt aus, doch er nickte. „Natürlich.“
„Warum habt Ihr mich begleitet?“
„Weil Ihr meiner Hilfe bedurftet.“
„Ihr habt mich also unterstützt, so wie Ihr es auch bei Grímur getan hättet? So wie es die Streiter eben untereinander tun?“
„Ja. Aber – “
„Habt Dank, mehr wollte ich nicht wissen. Verzeiht die Störung. Der Zeppelin… EInen geruhsamen Abend noch.“
Das Fragezeichen in seinem Gesicht wurde immer größer, mir wurde die Situation immer unangenehmer, und so verschwand ich so schnell, wie ich gekommen war. In Paukajas Heim schlug ich mir eine weitere Nacht um die Ohren, weil ich mich unablässig fragte, wie ich dem Krieger nach diesem peinlichen Vorfall je wieder unter die Augen treten sollte…