In den frühen Morgenstunden nickte ich doch noch erschöpft ein. Als ich erwachte, war Paukaja fort. Das Feuer war heruntergebrannt. Ich stapelte frische Scheite auf und fachte es neu an. Dann brach ich mir etwas von dem frischen Kräuterbrot ab, um meinen knurrenden Magen zu besänftigen. Dem Fisch am Vorabend hatte ich nicht besonders viel abgewinnen können, hatte mir meine Laune doch den Appetit verdorben. Als ich mein Frühstück beendet hatte, trat Paukaja ein. Sie hielt sich gerader als am Tag zuvor, und sie wirkte entspannter. „Guten Morgen, Schläferin. Ich hoffe, Ihr habt Euch etwas erholt und seid nicht mehr so verärgert. Verzeiht einer alten Taurin, wenn sie zu neugierig gewesen ist.“ Ihr Blick ließ mich nicht los. Es lag Zufriedenheit und Wehmut zugleich darin. „Nein, Ihr habt nichts falsch gemacht. Ich bin zu aufbrausend, vergebt mir meine Launen“, bat ich sie.
„Selbst Eure Launen sind mir ans Herz gewachsen, Ita. Ich werde sie vermissen. Ich werde Euch vermissen. Doch Ihr werdet mich heute noch verlassen müssen. Beram erwartet Euch bereits auf der Anhöhe der Geister. Die Ahnen trugen ihm auf, Euch zu den Teichen der Visionen zu bringen. Die Geister wollen Euch sehen, mehr sagte er nicht.“
Ich nickte und packte meine Taschen. „Wie geht es Eurem Rücken heute?Und Euren Beinen? Macht Euch das Laufen Mühe?“ Sie lächelte versonnen. „Nein, mein Kind. Ich fühle mich heute jünger und beweglicher als manchen Tag zuvor.“ – „Darf ich Euch bitten, mich nach Donnerfels zu begleiten? Ich würde den Weg dorthin gern nutzen, um mit Euch zu reden.“ Sie stimmte erfreut zu, nahm ihren Stab und ihren Umhang, ließ mich vor die Tür treten und verriegelte sie hinter uns. Gemächlich, um die alte Taurin nicht anzustrengen, schritt ich neben ihr her, zu allen Seiten von den herrlich satten, grünen Wiesen Mulgores umgeben. Die frische Luft und die Weite machten es mir etwas leichter, die Worte auszusprechen, die gesagt werden mussten: „Ich kam nicht aus freien Stücken zu Euch, sondern weil mich jemand dazu drängte. Ich wollte diesen Besuch verweigern, weil ich dachte… nun, daß wir nie wieder zueinanderfinden würden.“
„Grämt Euch nicht. Das Schicksal wollte es, daß wir beide in Einsamkeit trauern. Es ist schwer, diese Einsamkeit dann wieder zu überwinden. Glaubt mir, ich verstehe Euch gut. Doch jetzt seid Ihr hier, und das ist alles, was zählt. Habt Ihr mir vergeben können, daß ich Euch in der Stunde der Trauer im Stich ließ, weil ich so sehr in mein eigenes Leid verstrickt war?“
Ich sah sie erstaunt an. „Ich war es, die Euch keine Stütze war, als Ihr mich gebraucht habt.“
Sie lächtelte. „So war uns beiden wohl unnötig das Gewissen schwer. Oft grollt uns unser eigenes Gewissen viel schneller und stärker als es die tun, die uns lieb sind und von denen wir glauben, ihnen Unrecht getan zu haben. Lasst uns die Sorgen vergessen. Erzählt mir lieber noch ein wenig von Go – “
„Nein! Bei den Titanen, Ihr seid ja regelrecht besessen davon. Wenn Ihr damit nicht aufhört, erzähle ich Euch nie wieder überhaupt irgend etwas über irgendwen!“
Den Rest des Weges redeten wir über Kintan. Ich hatte erwartet, daß es schmerzen würde, doch es tat überraschend gut. Fast fühlte es sich an, als begleitete er uns tatsächlich irgendwie, als stimme er manchmal in unser Lachen mit ein. Obwohl wir un Zeit ließen, erreichten wir unser Ziel viel zu schnell. Paukaja nutzte die Möglichkeit, ein paar alte Nachbarn zu begrüßen und ihre Vorräte aufzustocken, während ich allein die Anhöhe der Geister aufsuchte, jedoch nicht ohne ihr beim Abschied zu versprechen, sie bald wieder zu besuchen.
Beram begrüßte mich, wir unterzogen uns der rituellen Reinigung und stiegen hinab zu den Teichen der Visionen, wo ich schweigend neben ihm verharrte. Der Schamane trank eine Flüssigkeit, die seinen Geist für die Ahnen empfänglich machen sollte. Mit der Zeit fiel es mir immer schwerer stillzusitzen. Meine Muskeln versteiften sich und begannen zu schmerzen. Die Temperatur in der Höhle fiel, ich begann zu frösteln. Gerade als ich mich fragte, ob die Geister sich an diesem Tag überhaupt noch zeigen würden, erhob Beram seine Stimme. Sein Blick war auf eine Stelle neben seinem Spiegelbild im Wasser gerichtet. Dort schien er jemanden anzusprechen, doch meinen Augen blieb der Blick auf die Ahnen verwehrt.
„Weiß sie um ihre Schwester?“
Mein Herz zog sich zusammen. Ael…
„Drängt die Zeit?“
Stille. Ich wagte nicht mehr zu atmen.
„Habt Dank für Eure Weisung.“
Die Höhle schien sich wieder ein wenig zu erwärmen. Beram sah geschwächt aus, als er sich mir zuwandte.
„Ihr müsst aufbrechen und Eure Schwester finden. Die Ahnen sagen, Ihr wisst, wen sie meinen. Ihr wisst nur nicht…“
„Was, Beram? Was weiß ich nicht?“
„Ihr haltet es für eine Umschreibung. Itarildë, Ihr irrt. Das Blut Eures Vaters fließt durch Euer beider Herzen.“
Einen Moment lang saß ich wie betäubt da. Dann fiel mir ein, was er die Geister noch gefragt hatte.
„Ist es eilig? Ist sie in Gefahr? Wo kann ich sie finden?“
Er schüttelte nur entschuldigend den Kopf. „Die Ahnen konnten sich dazu nicht äußern. Ich denke, Ihr solltet sofort aufbrechen.“
„Habt Dank“, verabschiedete ich mich und lief zum Ausgang. Auch wenn ich mir keine großen Hoffnungen machte, daß es so leicht sein sollte, nahm ich den Sprachstein zur Hand und rief nach ihr. Keine Antwort. Ich reiste auf kürzestem Wege nach Dalaran, wo sie oft ihr Nachtlager aufschlug. Der Morgen graute, die ersten Schläfer erwachten, doch von Aeluinya war nichts zu sehen. Weder im Rattenloch, noch im Zauberkasten hatte man sie kürzlich gesehen. Ich rief nach Grímur, der verschlafen und mürrisch antwortete: „Was?“
„Habt Ihr Ael gesehen? Wisst Ihr wo sie ist?“
„Auf dem Braufest war sie. Weiß nicht mehr wann. Sie wird ihren Kopf kurieren, ebenso wie ich, wenn Ihr erlaubt. Gute Nacht.“
Ich versuchte mehr aus ihm herauszubekommen, doch er antwortete nicht mehr. Khylon und Nurm reagierten ebenfalls nicht. Wahrscheinlich lagen auch sie noch in finsteren Träumen – es kam mir so vor, als schliefen die Untoten wochenlang gar nicht, um es irgendwann am Stück aufzuholen und für einige Tage in Totenstarre zu verfallen. Ich reiste nach Shattrath. Kein Lebenszeichen. Niemand, der sie gesehen hatte. Silbermond. Kein Hinweis in den Gasthäusern. Zielstrebig durchschritt ich die Mördergasse und betrat den Keller der Hexer. Keine Aeluinya, kein Alamma, den ich nach ihr hätte fragen können. Ich wollte schon kehrtmachen, als ich die zersplitterten Möbel zur Kenntnis nahm. Dann fielen mir die Flecken auf dem Boden auf. Ich rieb mit dem Finger darüber. Getrocknetes Blut. Ich stürzte hinaus und erbrach mich. Ich zitterte am ganzen Leib, Krämpfe und Schluchzer schüttelten mich. Ich war von einer Panik erfasst, die mich vollständig kontrollierte und mich außer Gefecht setzte.
„Braucht Ihr Hilfe?“
Ich schrak zusammen. In meinem Elend hatte ich die Magierin nicht kommen hören, die nun mir gerunzelter Stirn und besorgtem Blick vor mir stand. „Aeluinya… Habt Ihr sie gesehen?“
„Tut mir leid, der Name sagt mir nichts.“
„Und Alamma, der Hexenmeister?“
„Er ist seit einigen Tagen verschwunden. Niemand weiß, wo er steckt.“
„Da unten scheint ein Kampf stattgefunden zu haben.“
Sie nickte. „Ja, seit Alammas Verschwinden sieht es dort so aus. Wir sind alle in Sorge… Könnt Ihr aufstehen? Braucht Ihr etwas?“
Ich rappelte mich auf. Die ganze Welt drehte sich, als ich mich erhob. Ich stützte mich an der Hauswand ab, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
„Bitte öffnet mir ein Portal nach Orgrimmar. Ich muss sie finden…“
„Ich weiß nicht, ob Ihr in diesem Zustand – “
„Eure Sorge ehrt Euch, doch ahnt Ihr nicht, in welcher Not ich bin. Das Portal, ich bitte Euch!“
Nach einem kurzen Zögern nickte sie und tat, um was ich sie gebeten hatte. Ich zog ein paar Goldmünzen aus der Tasche, doch sie winkte ab. „Viel Glück. Passt auf Euch auf.“
Ich dankte ihr und durchschritt immer noch zitternd und wacklig das Portal. Meine Beine wollten mich kaum tragen, doch irgendwie gelangte ich zu der Tür, vor der ich zwei Tage zuvor schon einmal gestanden hatte. Es schien ein ganzes Leben her zu sein.Mit dem Stab hämmerte ich dagegen, während ich mich am Türrahmen festkrallte. Meine Knöchel traten weiß hervor, meine Arme zitterten. Das Blut rauschte mir in den Ohren und hämmerte in den Schläfen, als wollte es mir den Kopf platzen lassen. Die Tür wurde aufgerissen.
„Gorrtak, ich… Ael… Ihr müsst mir helfen sie zu finden, sie ist – “
Ich erstarrte, als ich durch den Türspalt eine Bewegung wahrnahm. Am Tisch vor dem Feuer saß niemand anderes als der Hexenmeister von Silbermond.
„Verräter!“ spuckte ich aus und stolperte blindlings durch die Gassen, bis ich zusammenbrach und das Bewusstsein verlor.