Ich lag auf dem Bärenfell und starrte ins Feuer. Der Blick in die tänzelnden Flammen machte mich müde, doch meine Gedanken wollten nicht zur Ruhe kommen. Würde sie gerade an mich denken so wie ich an sie? Hatte sie mir meine bisherige Ablehnung verziehen? Konnte sie sich an mehr erinnern als ich? An die Zeit unserer Kindheit, die sich immer noch als ein großes, schwarzes Loch in meinem Gedächtnis befand. Ich starrte in das glühend heiße Lichtspiel des Kamins und versuchte, mich zu erinnern, doch es gelang mir einfach nicht. Was sollte ich ihr sagen, wenn wir uns gegenüberstehen? Wie sollte ich reagieren? Ich nahm einen weiteren Schluck Wein, nicht mehr wissend, der wievielte es inzwischen war. Meine Gedanken vernebelten sich wie mein Blick. Ich schaute mich um. Der Wohnraum des Landsitzes erschien mir immer mehr wie das „Rattenloch“. Doch Dalaran war in diesem Moment weit entfernt. Nur eines schien mir noch weiter entfernt. Itarildë. „Miro, der Wein … schon alle … bringt mehr.“ Der junge Diener stand stumm wartend an der Tür, nickte und drehte sich um. In diesem Moment kam Alamma herein und erwiderte auf den besorgten Blick von Miro mit ruhigem Tonfall: „Lasst ihr den einen Abend. Lasst sie heute Ihren Kummer ertränken. Aber gebt auf sie acht während ich fort bin. Ich weiß, dass ich mich auf Euch verlassen kann.“ Der Jüngling nickte erneut. Alamma drehte sich um und verließ den Raum.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, lag ich immer noch auf dem Bärenfell vor dem Kamin. Doch eine Decke lag nun über meinem Körper und ein Kissen unter meinem Kopf, der nun merklich zu schmerzen begann. Ich setzte mich auf und wickelte die Decke um mich. Das Licht brannte in meinen Augen, die ich zu kleinen Schlitzen formte.
„Alamma?“, krächzte ich mit heiserer Stimme. Miro betrat den Raum. „Meister Alamma ist fort.“ – „Wo?“, fragte ich kurz und knapp, da jedes unnötige Wort nur in meinem Kopf dröhnte. „Er reiste nach Orgrimmar. Er wollte dort jemanden aufsuchen.“ – „Wen?“ – „Es tut mir leid, das entzieht sich meiner Kenntnis.“ Ich stand auf, die Decke wie eine schützende Hülle um mich gewickelt, ging zum Fenster und öffnete es. Eine frische Prise umgarnte meinen Kopf und kämpfte gegen das Hämmern in meinem Schädel.
„Ich habe Euch ein Mahl zubereitet, das Eurem Kopf helfen wird.“, hörte ich eine Stimme im Hintergrund. Ich drehte mich um. Miro stand lächelnd in der Tür und ich kam nicht herum zurückzulächeln. „Setzt Euch, ich werde es an den Tisch bringen.“ Ich winkte ab. „Nein. Lasst. Ich werde in der Küche essen.“ Zusammen gingen wir in den Küchenraum, wo es wundervoll nach einer Mischung unterschiedlicher Gebäcke und Gewürze roch. Trotz meiner Übelkeit verspürte ich plötzlich Appetit. Miro richtete mir etwas auf einem Teller an und reichte diesen herüber. Ich wusste nicht, was es war, aber es schmeckte grandios. „Bitte, leistet mir Gesellschaft.“, rief ich als er gehen wollte. „Ihr habt mich zugedeckt und mir das Kissen unter meinen Kopf gelegt?“, fragte ich mit vollem Mund. Miro nickte und musste leise lachen. Ich schaute ihn verwundert an. „Verzeiht, Ihr … Ihr … habt dort … an Eurem Mund.“ Ich wischte mir schnell die Essensreste aus dem Gesicht und merkte wie mein Kopf eine rötliche Färbung bekam. Miro schaute zu Boden und entschuldigte sich. „Nein, Miro, nein, habt Dank für den Hinweis.“ Ich sah ein Schmunzeln in seinem Gesicht. „Und habt Dank für die Decke und das Kissen … und für das Mahl.“ Er nickte nur.
„Miro, erzählt mir mehr über Euch und das Anwesen hier.“
„Das Haus gehört Eurem Großvater, es ist der Landsitz der Schattenklangs. Ein Rückzugsort außerhalb von Silbermond. Über mich gibt es nicht viel zu sagen. Ich bin Diener in diesem Haus, genau wie es mein Vater war.“
„War?“, fragte ich vorsichtig nach.
Der junge Diener schaute zum ersten Mal sichtlich traurig, versuchte es aber so gut es ging zu unterdrücken. „Mein Vater begleitete Euren Großvater beim Einfall der Geißel. Beide kämpften um Silbermond, verschwanden dann jedoch spurlos. Ihre Leichen wurden nie gefunden.“
„Mein Großvater. Was …. wer …?“, versuchte ich, eine Frage zu ihm herauszubekommen. Doch Miro unterbrach mich schnell. „Es tut mir leid, über Euren Großvater kann ich nichts sagen.“ Er wusste mehr, das sah man, aber er wollte oder durfte wohl nicht darüber reden.
Den weiteren Tag verbrachte ich damit, die Gegend zu erkunden und irgendwelche Anhaltspunkte zu finden, die meine Erinnerungen endlich vollständig herstellen würden. Doch alles, was ich sah, alles, was ich fand, schien mir unbekannt. Der Abend kam schnell und das Nachtmahl von Miro stand dem am Morgen in nichts nach. Wir saßen in der Küche und unterhielten uns über den Krieg, über unser Volk und über seine beneidenswerten Kochkünste. Auch die nächsten Tage folgten immer dem gleichen Tagesablauf. Ich blätterte in den Büchern der Bibliothek und durchsuchte die Schriften im Arbeitszimmer. Nichts.
Nach einigen Tagen – es müssten fünf, sechs oder mehr vergangen sein – stand Alamma plötzlich wieder in der Tür. Die ersten Sonnenstrahlen waren gerade erst zu sehen als er mich weckte.
„Ael, pack deine Sachen. Wir brechen auf.“
Noch völlig schlaftrunken versteckte ich meinen Kopf unter dem Kissen und murmelte irgendwas von „will schlafen“. Erst einige Sekunden später realisierte ich, wer mich gerade geweckt hat und saß senkrecht in meinem Bett.
„Alamma, wo wart Ihr?“
„Das ist jetzt erst mal unwichtig. Wir müssen los.“
„Wohin?“
„Zur Drachenkönigin Alexstrasza. Sie hat Informationen für dich und deine Schwester.“
Ich erschrak. „Ita wird auch da sein?“ Alamma nickte. „Nein, Nein.“ Ich vergrub meinen Kopf im Kissen. „Nein.“, wiederholte ich immer und immer wieder.
„Ael?“
„Ich kann nicht, Alamma. Was ist, wenn sie … wenn ich …? Nein, Alamma, ich kann sie nicht sehen. Geht.“
„Aber …“
„ICH WILL SIE NICHT SEHEN. LASST MICH ALLEIN!“
Mein alter Meister seufzte und ging mit gesenktem Kopf aus dem Raum. „Ich werde es der Drachenkönigin ausrichten lassen.“
Nachdem Alamma die Tür hinter sich geschlossen hatte, setzte ich mich auf die Bettkante. Ich fühlte mich schlecht – als ob ich alle Menschen, die mir noch etwas bedeuteten gerade im Stich gelassen und verraten hätte. Wäre es doch bloß nicht soweit gekommen, hätte ich diese verdammte Jägerin doch einfach nie getroffen. Es genügte mir, mich auf mich zu konzentrieren. Ich brauchte keine anderen. Erst recht brauchte ich keine Schwester. Mit wackeligen Beinen stand ich auf und hielt mich an der Bettkante fest. In diesem Moment sprang mir der Brief von Itarildë ins Auge, den ich auf den kleinen Tisch neben das Bett gelegt hatte. Ich gab mir einen Ruck, nahm ihn und öffnete langsam den Umschlag. Mir kam es vor als ob ich den Geruch von Ita vernahm als ich den geöffneten Umschlag in meiner Hand hielt. Ich schloss die Augen und saugte ihn auf wie den Duft einer prachtvollen Blume. Mein Herzschlag schien immer langsamer zu werden, die Zeit um mich herum stand. Ich nahm den Brief und begann zu lesen.
Arthas persönlich hätte neben mir erscheinen können, es wäre mir egal gewesen. Die Dämonenarmee hätte einfallen können, meine Aufmerksamkeit hätte sie nicht bekommen. Meine Aufmerksamkeit galt alleine dem Brief. Zeile für Zeile fuhren meine Augen über die geschriebenen Worte von Itarildë und plötzlich viel ein Stern vom Himmel genau vor meine Füße. Ein Name erklang wie ein Flüstern in der Ferne. Ein Name, der immer deutlicher wurde, der immer näher kam.
„Lunya.“
Die Erinnerungen trafen meinen Körper wie ein Blitz und warfen mich zu Boden. „Ita …“, murmelte ich während mir immer schwindeliger wurde. Mit letzter Kraft tastete ich mit meinen Händen den Boden nach dem Brief ab. Als ich ihn endlich fasste, presste ich ihn fest an mein Herz.
„Wir wollen uns nie vergessen. Auch wenn es tausend Jahre dauert, wir …“, brachte ich gerade noch heraus bevor ich ohnmächtig wurde.
Als ich wieder aufwachte, sah ich in das besorgte Gesicht Alammas, der meinen Kopf hielt. Ich fasste ihn beim Kragen und zog ihn dicht an mich heran. Ich blickte tief in seine Augen und bevor er überhaupt eine Frage stellen konnte, brachte mein Mund den einzigen Satz heraus, der mir in meinem Kopf herumschwirrte.
„Ich will zu meiner Schwester. Sofort!“
Eine Antwort auf „Die Erinnerung“
In Ermangelung eigener Worte:
„Was da auch kommen mag.“ Das zarte Flüstern schwebte im Raum wie ein Duft, und dann legte Emily die Geige an und spielte eine Melodie, die das Flüstern umarmte und in Töne kleidete, die bis zu den Herzen der Mädchen vordrangen und dort blieben, weil sie nie mehr verklingen wollten.
– Chr. Marzi: Lumen –