Gorrtak behielt recht. Es dauerte nicht lange, bis die Unruhe mich überkam. Der Wunsch in den Kampf zu ziehen, ganz gleich in welchen. Ich wollte meine Kräfte nutzen, an meine Grenzen gehen, mich verausgaben und der Gefahr ins Auge blicken. Fort von hier, wo ich bestenfalls einen unschuldigen Luchs oder ein klappriges Skelett ins Schussfeld bekommen konnte. Er war es, der mich davon abhielt. Er war es aber auch, der mir das Bleiben erträglich machte. Während drei Kaninchen über dem Feuer brieten, erzählte er mir Geschichten aus den frühen Tagen der Finsteren Streiter. Es schien Jahrhunderte her zu sein – Gorrtak als einfacher junger Peon ohne Ambitionen der Geißel die Stirn zu bieten, Aeluinya als unerfahrene Hexe, die ihr Handwerk erst noch erlernen sollte, Wargrok, der von Gorrtak als Verräter beschimpft wurde, nachdem dieser ihn mit einer Gruppe Nachtelfen gesehen hatte… An dieser Stelle sah ich betreten zu Boden. Er bemerkte es und lachte.
„Ja, Jägerin, nicht nur Ihr neigt zu voreiligen Schlüssen. Manch einer hat als Hitzkopf begonnen und über die Jahre lernen müssen was Besonnenheit bedeutet.“
„Ich glaube kaum, daß Ihr jemals ein Hitzkopf wart.“
Er legte den Kopf in den Nacken, schaute in die Sterne, die durch die hohen Baumkronen noch zu sehen waren, und schien an die alten Zeiten zurückzudenken. Wieder lachte er.
„Ein Hitzkopf vielleicht nicht, aber wie wir alle war ich wüster und impulsiver als heute – und lange nicht so weise.“ Er grinste.
„Das alles muss eine Ewigkeit zurückliegen.“
Er seufzte. „Euch käme es wie ein Wimpernschlag vor. Ihr werdet vermutlich auch noch meine Enkel überleben, sollte ich je welche haben.“
„Mögen die Titanen mich vor diesem Schicksal bewahren“, entfuhr es mir. Unsere Blicke trafen sich. Das Schweigen wog schwer. Blutelfen waren dazu geboren unter sich zu bleiben. Mein Volk aber waren die Streiter geworden. Sollte mich nicht der Segen treffen, jung auf dem Schlachtfeld zu sterben, würde ich jeden einzelnen von ihnen überleben.
Nachdem wir uns die Kaninchen hatten schmecken lassen, war es an mir zu erzählen. Es fiel mir unerwartet leicht. Dieser Wald, diese Lichtung waren voll der Erinnerungen. Dort, an dem kleinen Bach, hatten wir ein Floß schwimmen lassen, das Lunya für mich gebaut hatte. Wir hatten uns an den Händen gefässt und es in die Luft steigen lassen, bis unser Lachen jede Konzentration fortspülte und mit ihr das Floß, das daraufhin wieder ins Wasser gefallen war. Ein Stück weiter stand noch immer unser Kletterbaum – Mutter hatte immer behauptet, ich hätte das Klettern gelernt, noch ehe ich laufen konnte. Hinter der Anhöhe da vorne hatte eine Luchsfamilie ihren Bau gehabt. Lunya und ich waren jeden Tag dort gewesen, um die Kleinen beim Spielen zu beobachten, obwohl Vater es uns streng verboten hatte. Und dort drüben…
Eine Erinnerung folgte der nächsten. Für die Dauer des Erzählens kehrte Friede in mir ein. Doch schließlich brach die Nacht herein. Der Krieger bettete sich zur Ruhe, während ich im flackernden Schein des Feuers mein Schreibzeug hervorholte.
„Lunya… Ael… Aeluinya…
ich weiß nich einmal mehr, mit welchem Namen ich dich ansprechen darf. Geliebte Schwester, klingt es in mir, doch bin ich fast sicher, daß es nicht das ist, was du hören möchtest. Du willst mich nicht sehen… Und ich verstehe es. Mein Kopf begreift, welchen Zorn du auf mich haben musst. Es tut mir entsetzlich leid was geschehen ist. Daß sie dich fortgeschickt haben, nicht mich. Du musst mich dafür hassen… Noch mehr jedoch reut mich, mein Versprechen gebrochen zu haben, das ich dir in der Nacht vor unserem Abschied gab. Ich habe dich vergessen. Kein Zauber der Welt hätte mich vergessen lassen dürfen! Kein Zauber der Welt hätte es vermocht, wenn mein Herz nicht so schwach gewesen wäre. Ich habe es zugelassen. Jede Sekunde ohne dich war so eine Qual. Ich dachte, es würde mein Innerstes zerreissen. Das Vergessen hat mir für viele Jahre Ruhe geschenkt, doch nun kehren die Qualen zurück. Du bist mir so nah, so erreichbar, und doch darf ich nicht… Lunya, ich sehne mich so! Wenn ich dich nur zurückgewinnen könnte…Wie sehr verfluche ich unseren Vater für diese eine Entscheidung, die uns für immer getrennt hat! Wie sehr verfluche ich mich, weil ich keinen Weg finde dein Verzeihen zu verdienen. Ich wünschte, ich könnte dir wenigstens deinen Frieden lassen, aus deinem Leben verschwinden, wenn es das ist, was du willst, doch allein der Gedanke daran ist mir unerträglich. Wie kann ich ohne dich sein? Du bist mein Licht, meine Freude, mein -“
Ich warf das Papier in die Flammen. Sie hatte so viel um meinetwillen erdulden müssen. Ich musste aufhören sie zu quälen. „Wenn es das ist, was du willst…“ flüsterte ich und weinte mich in den Schlaf.
„GEBT NICHT AUF, JÄGERIN. ICH GEBE EUCH EURE SCHWESTER ZURÜCK. WENN IHR BEREIT SEID UM SIE ZU KÄMPFEN.“
Der freundliche schwarze Schatten war zurückgekehrt. „Was soll ich tun, Meister?“
„VERHINDERT, DASS DIE DRACHENKÖNIGIN DAS HERZ EURER SCHWESTER VERSCHLIESST. TÖTET SIE. TÖTET ALEXSTRASZA! ERINNERT EUCH AN EUREN AUFTRAG. ERINNERT EUCH NICHT AN -“
„Ael will Euch sehen!“
Sofort war ich hellwach. Gorrtaks Blick war besorgt, als ich die Augen aufschlug.
„Wie fühlt Ihr Euch?“
„Wo ist sie?“
„Noch im Haus der Schattenklangs. Sie brechen gleich auf. Geht es Euch gut?“ Er versuchte eine Hand auf meine Stirn zu legen, während ich bereits auf die Füße sprang.
„Setzt Euch hin, verdammt!“ Die Heftigkeit in seiner Stimme verblüffte mich so sehr, daß ich gehorchte.
„Entschuldigt. Ich wollte nicht… Wie geht es Euch? Fühlt Ihr Euch fiebrig?“
„Es geht mir gut. Was ist los mit Euch? Können wir aufbrechen, bitte?“
„Sie kommen hierher. Ihr habt im Schlaf geredet und wolltet nicht aufwachen. Ich habe versucht Euch wachzurütteln. Ihr habt gar nicht reagiert, bis ich Aels Namen nannte.“
Ich zuckte mit den Schultern. „Dunkle Träume, nichts weiter…“
„Wovon habt Ihr geträumt? Versucht Euch zu erinnern!“
Ich runzelte die Stirn. „Was spielt das für eine Rolle? Können wir nicht später -“
„Nein. Riecht Ihr das denn nicht?“
Ja, es roch seltsam. Es stank zum Himmel. „Brennt es irgendwo?“ fragte ich alarmiert. Schon packte mich Panik. Wenn Ael schon unterwegs war, wenn sie vom Feuer…
„Nein. Es riecht nach dunkler Magie, selbst ich merke das. Ihr habt keinen Zauber gewirkt, und doch verbreitet sich dieser Geruch erst, seit Eure Träume begannen. Was habt Ihr gesehen?“
„Ein freundlicher schwarzer Schatten…“ kam mir noch in den Sinn. „Ein Auftrag… Ich soll etwas tun, dann kommt sie zurück zu mir…“ Ich fühlte mich wie von Nebel verschluckt. Irgendwo war die Erinnerung, doch vermochte ich sie nicht recht zu fassen. Immer wieder entglitt sie mir.
„Was für ein Auftrag, Ita? Und wer hat ihn Euch gegeben?“
Ich fing an zu zittern. „Eis. Sie ist Eis. Sie will mich von Ael trennen.“ Mir wurde schwindelig. Ich schloss die Augen, bereit zu versinken in gnädiger Schwärze. In diesem Moment traf mich eine flache Hand mitten auf die Wange. Brennender Schmerz.
„Was für ein Auftrag ist das, Jägerin?“ Alamma. Wo Alamma war, musste auch Aeluinya sein. Ich riss die Augen auf. Sie stand etwas abseits, in sicherer Entfernung. Das schönste, liebenswerteste Geschöpf unter der Sonne… Unsere Blicke trafen sich. Ich las Verwirrung und Angst in ihren Augen. Es brach mir das Herz. „Lunya…“ flüsterte ich überwältigt.
Sofort traf mich die nächste Ohrfeige, dieses Mal härter. Der Orc knurrte. „Es reicht, Alamma! Sie ist wach. Es gibt keinen Grund, noch einmal die Hand gegen sie zu erheben.“ Seine Stimme klang gefährlich leise, als er den Hexenmeister warnte, doch ich nahm es kaum zur Kenntnis. Ich hatte nur Augen für meine Schwester und wünschte mir sehnlichst mit ihr allein zu sein.
„Was für ein Auftrag, Jägerin?“ Alamma spuckte die Worte regelrecht aus, schlug mich aber kein weiteres Mal.
„Ich erinnere mich nicht. Es war nur ein Traum…“ gab ich verzweifelt zurück.
„Dann werde ich Eurer Erinnerung etwas nachhelfen…“ Zu recht erschien es mir wie eine Drohung. Eine Welle der Übelkeit überrollte mich, und ein sengender Schmerz schoss in meinen Kopf, als er in meinen Geist eindrang.
„So viel Macht in einem so ungeschulten Geist“, murmelte der Hexenmeister. „Euer Vater muss wahnsinnig gewesen sein, daß er Euch nicht ausbilden ließ.“ Dann kam der Traum zurück wie eine frische Erinnerung, klar und deutlich.
„Ein schwarzer Drache“, keuchte ich. „Ich soll Alexstrasza töten. Wenn nicht, wird sie mir meine Schwester für immer entreißen. Wenn ich es tue, wird er mir Ael zurückbringen und die Kämpfe beenden. Alles wird gut sein.“
Er ließ von mir ab und warf Gorrtak finstere Blicke zu, der mir unbeirrt etwas Wasser reichte. Die Flüssigkeit ließ die Schmerzen langsam abklingen.
„Ihr seid eine Gefahr für alle, Itarildë. Es ist zu spät Euch auszubilden. Ohne Ausbildung aber steht es in der Macht eines jeden halbwegs geschickten Dunkelmagiers, Eure Kräfte für sich zu nutzen. Es gibt zwei Wege, Euch Eure Kräfte wieder zu nehmen. Den ersten kennt Ihr.“
Ich sah ihn fragend an.
„Ich kann Eure und Aels Erinnerungen aneinander erneut löschen.“
„Nein!“
„Es wäre der bessere Weg für Euch.“
„Nein! Alamma, bitte…“
„Es gibt einen zweiten Weg.“
Ich beruhigte mich ein wenig, konnte jedoch noch immer nicht den Blick von Ael lösen.
„Es ist möglich, die magische Verbindung auf künstliche Weise zu unterbinden. Die Schwester, bei der die Unterbrechung vorgenommen wird, kann nie wieder in Kontakt mit den Kräften des Nethers treten.“
„Und die andere?“ fragte ich, Ael im Blick, die ohne diese Kräfte nichts mehr hätte.
„Wird sich auf die Kräfte beschränken müssen, die sie durch ihre Ausbildung erworben hat. Da Ael die Macht der Schwestern nie ohne Euch genutzt hat, dürfte sie nicht sehr darunter leiden.“
„Dann tut, was immer Ihr dafür tun müsst.“
Der Hexenmeister nickte, doch Gorrtak fuhr wütend dazwischen. „Alamma! Regt sich Euer Gewissen nicht bei dem Versuch sie so zu hintergehen?“ Sie funkelten einander zornig an. Dann seufzte Alamma.
„Es ist ein äußerst schmerzhafter Eingriff. Ihr könntet wahnsinnig werden. Oder daran zugrunde gehen. Nur wenige der Versuchspersonen haben überhaupt überlebt.“ Ich nickte.
„Lasst mich einen Augenblick mit ihr allein“, bat der Krieger. Alamma drehte sich wortlos um und ging auf meine Schwester zu. Ich hoffte, er würde ihr irgend etwas sagen, um die Angst aus ihrem Blick zu vertreiben.
„Ita, seht mich an. Versucht Euch für einen Moment auf etwas anderes als Aeluinya zu konzentrieren. Nehmt Euch Zeit darüber nachzudenken.“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, Gorrtak. Es gibt nur diese eine Wahl. Lieber will ich… Um nichts auf der Welt will ich sie jemals wieder vergessen.“
„Sind Euch Eure Erinnerungen lieber als Euer Leben?“
Nun schaute ich ihm doch fest in seine roten Augen. „Ja, das sind sie. Was sollten mir zweihundert Jahre mehr denn nur wert sein, wenn es nichts gibt, was sie mit Inhalt füllt? Ohne Ael hat mein Leben keine Tiefe. Sie zu vergessen wäre schlimmer als der Tod.“ Es schien mir, als blickte er mich eine Ewigkeit lang an, und ich erwiderte seinen Blick, prägte mir die vertrauten Gesichtszüge vielleicht zum letzten Mal ein und lächelte dabei.
„Was lässt Euch im Angesicht des Todes lächeln, Wildkatze?“ fragte er düster.
„Ihr seid es. Es ist schön Euch noch einmal betrachten zu dürfen und Euch so nahe zu sein.“
„So viel Offenheit von einer Blutelfe ist fast schon schockierend.“ Er versuchte ein Lächeln, doch es sah traurig aus. „Ich sage Alamma, daß Ihr bereit seid.“ Er wandte sich zum Gehen.
„Gorrtak!“
„Ja?“ Erwartungsvoll sah er mich an.
„Wärt Ihr eines Tages noch einmal mit mir auf die Jagd gegangen?“
„Bleibt am Leben und findet es heraus.“ Abrupt drehte er sich um und ging eiligen Schrittes auf Alamma und Aeluinya zu. Ich beobachtete sie, während sie miteinander redeten. Ael wirkte so jung, so verletzlich…
„Fürchte dich nicht“, flüsterte ich. Als hätte sie meine Worte vernommen, strafften sich ihre Schultern. Ihr Blick wurde fest und stark. Für einen kurzen Moment noch glaubte ich ein Flackern darin zu sehen, dann hatte sie sich im Griff. Erhobenen Hauptes kam sie mir entgegen, gefolgt von Gorrtak und Alamma.
„Schwester…“ sagte sie leise auf Thalassisch.
„Was da auch kommen mag“, antwortete ich in der Sprache unserer Kindheit.
„Ich werde es tun. Ich werde dir dabei Schmerzen zufügen müssen.“
„Keine, die nicht schon im gleichen Moment vergessen wären.“
Sie hob die Hände, und ich legte meine Handflächen gegen ihre. Tränen liefen mir über die Wangen.
„Nicht weinen, Ita“, flüsterte sie, und die Tränen lösten sich in Nichts auf, während eine zarte Magie uns durchfloss. Ein letztes Mal…
Alles in mir hieß sie willkommen, als sie behutsam in meinen Geist eindrang. ‚Verzeih mir‘, hörte ich ihre Gedanken in mir. Dann lernte ich die wahre Bedeutung von Schmerz kennen.